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Spendenaufruf: Feministische Proteste statt Fundis und Polizei!

Weitergeleitet vom What the Fuck-Bündnis:
“Feministische Aktivist:innen werden mit Repression überzogen. Doch wir lassen uns nicht unterkriegen!
Spendet und zeigt euch solidarisch mit den Protesten gegen christlichen Fundamentalismus und für
reproduktive Rechte!

Seit 2008 protestieren wir lautstark, kreativ und voller Elan gegen den christlich-fundamentalistischen „Marsch für das Leben“, bei dem jährlich selbsternannte „Lebensschützer“ ein generelles Verbot von Abtreibungen fordern. Mit Blockaden und unter tatkräftiger Unterstützung von tausenden Feminist:innen, Queers und Antifaschist:innen wurde der Marsch in den letzten Jahren gestört und verzögert, die christlichen FundamentalistInnen mussten ihre geplante Route verändern und abkürzen. Mit unseren queer-feministischen Demos tragen wir unsere Inhalte für körperliche und sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße. Doch wie so oft findet eine Kriminalisierung feministischer und antifaschistischer Kämpfe statt. Bei unseren kämpferischen aber immer friedlichen Demos finden immer wieder Taschenkontrollen statt und unser Protest wird durch ein hohes Polizeiaufgebot begleitet. Im letzten Jahr war die Kriminalisierung für uns besonders spürbar: Ca. 100 Aktivist:innen, die sich an einer friedlichen Sitzblockade des „Marsch für das Leben“ beteiligten, wurden über mehrere Stunden in einem Kessel von der Polizei festgehalten, ohne Zugang zu Toiletten und auch ohne ersichtlichen Sinn – der „Marsch für das Leben“ hatte schon weiterziehen können. Alle Teilnehmenden wurden in die Gefangenensammelstelle gebracht, wo ihre Identität festgestellt wurde. Bis jetzt haben mehr als 50 Personen Anzeigen wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung, Vermummung und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz erhalten. Doch hier wird nicht nur feministischer Protest kriminalisiert. Der Fall zeigt auch die Konsequenzen der Verschärfungen von Straf- und Polizeigesetzen der letzten Jahre. Die kleinste Regung und Reflexe werden als Widerstand oder Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte kriminalisiert. Die erhöhten Strafmaße sollen gerade junge Menschen vom Protest abschrecken. Doch wie schon immer gilt: Nur weil es kriminalisiert wird, heißt es nicht, dass es falsch ist.

Wir kämpfen weiter für reproduktive Rechte und gegen christlichen Fundamentalismus. Wir lassen uns nicht einschüchtern und halten zusammen!

Doch damit nicht genug an Einschüchterungsversuchen und Repression. Eine von uns 2019 angemeldete
Kundgebung wurde von der Polizei vorzeitig aufgelöst und Aktivist:innen von der Straße gedrängt. Als Grund wurde angegeben, dass der „Marsch für das Leben“ sonst nicht vorbei kommen könnte. Das ist polizeiliche Willkür und stellt aus unserer Perspektive klar einen Verstoß gegen das Versammlungsrecht dar. Gegen diese Maßnahme haben wir Klage gegen die Berliner Polizei eingereicht.

Feministische Kämpfe sind weltweit sichtbar und sind mit Gewalt, Repression und Unterdrückung konfrontiert. Seien es Kämpfe um die körperliche und geschlechtliche Selbstbestimmung von FLINT* (Frauen, Lesben, Trans*, nicht-binären und Inter-Personen), der Einsatz gegen Sparpolitik im Gesundheitsbereich oder die Forderung nach einer gerechteren und feministischen Verteilung von Macht und Gütern – oder generell der Kampf für die Abschaffung des patriarchalen Herrschaftsverhältnisses.
Egal wo, egal wann, egal wie – Feminism is not a crime! Feministischer Protest ist kein Verbrechen! Schwangerschaftsabbrüche sind keine Straftat – wir dürfen selbst über unseren Körper entscheiden!

Ihr kennt das, gemeinsam löffeln wir die Suppe aus und unterstützen jene, die von Repression betroffen sind. Dafür brauchen wir euch, eure Unterstützung und eurer Geld. Ihr habt verschiedene Möglichkeiten, uns zu unterstützen:

1. Money is the only thing I´m after-Special:
Ihr spendet unter dem Betreff „Pro Choice“ (wichtig, sonst kommt das Geld nich an) an die Rote Hilfe. Das Geld können wir dann für anstehende Gerichts- und Anwält:innenkosten nutzen.
Hier die Kontodaten:
Rote Hilfe e.V.
GLS-BankKonto-Nr.: 4007 238 317BLZ: 430 609 67
IBAN: DE55 4306 0967 4007 2383 17
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: Pro Choice

2. Feminist Style-Special:
Vermummen statt Schweigen! Ihr kauft bei Black Mosquito eine unserer in Handarbeit hergestellten Solimasken „Angry Queers“ oder „Feminist As Hell“ in unterschiedlichen Ausführungen, habt was Gutes für uns getan und seht dabei euch noch schick aus:
https://black-mosquito.org/de/gesichtsmaske-feminist-as-hell-soli.html
https://black-mosquito.org/de/gesichtsmaske-angry-queers-soli.html
Außerdem haben wir selbstgedruckte „What the Fuck“-Shirts sowie Patches für euch im Angebot, die wir bei Infoveranstaltungen und -Ständen dabei haben.

3. Social Media Special:
Keine Kohle, aber trotzdem Bock, unsere Kampagne zu unterstützen? Dann schreibt einen Beitrag mit einem Bild (gern auch ohne euer Gesicht), warum ihr die Kriminalisierung feministischer Proteste daneben findet. Fotos erreichen eine größere Reichweite, daher postet diese gern unter folgenden Hashtags auf Twitter, Facebook oder Instagram:
#FeminismIsNotACrime #AngryQueers #ProChoice #nofundis #FeministAsHell”

Gespaltene Subjektivität – Linke Männlichkeit und sexuelle Grenzüberschreitungen. Für eine pro-feministische Praxis von Männern!

Der Text findet sich im Folgenden als Fließtext oder besser lesbar hier als PDF-Dokument mit Fußnoten.

In der Berliner und bundesweiten Linken wurde in den letzten Monaten verschiedene Fälle von sexuellen Grenzüberschreitungen, Übergriffen bis zu hin zu expliziter sexueller Gewalt bekannt gemacht. Diese Taten – vom Monis Rache-Festival über verschiedene Vorfälle im Umfeld von Hausprojekten und zuletzt in und um die Berliner Kollektivkneipen k-fetisch und tristeza – bilden nur die Spitze des Eisbergs einer leider alltäglichen sexuellen Gewalt in der Linken. Dass zuletzt mehr solcher Fälle bekannt wurden, verweist auch auf eine gestiegene Vernetzung und ein gesteigertes Selbstbewusstsein von Feminist_innen, die sich unermüdlich an den Ausformung (linker) Männlichkeit abarbeiten (müssen). Zugleich wurden dazu in den letzten Monaten nach unserem Wissen kaum Texte dazu von (heterosexuellen) Männern veröffentlicht. Auch um die Verantwortung zur inhaltlichen Auseinandersetzung nicht auf Frauen zu verschieben und ihnen damit eine doppelte Last als potenziell Betroffene und als Aufarbeitende aufzubürden, ist dieser Text entstanden. Der Text ist sicher unvollständig, soll aber einen Beitrag zur Diskussion um sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt von linken Männern leisten.

Problembär Männlichkeit

Wir verstehen Männlichkeit nicht essentialistisch-biologistisch, sondern materialistisch als gesamt-gesellschaftliches Problem, als einen Pol des zwangsheterosexuellen Geschlechterverhältnisses, welches die bürgerlich-patriarchale Gesellschaft durchzieht und strukturiert. Männlichkeit ist keine primär individuelle oder moralische Angelegenheit, sondern eine Frage von institutionalisierter, öffentlicher wie privater Macht und Herrschaft. Auch von Subjektkonstitution und Habitus, der ab der frühesten Kindheit eingeübt wird. Und damit ist Männlichkeit eng mit dem Kapitalismus verwoben. Sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt sind ebenso keine Problematik Einzelner, sondern der ganzen Gesellschaft. In der Regel sind Männer die Täter, meist sind Frauen die Betroffenen. Feminist_innen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es alltägliche männliche Praxen und Strukturen sind, die sexuelle Gewalt verharmlosen, verheimlichen und auch aktiv befördern, dass solche Taten Fortbestand haben. Dementsprechend gehen wir von einem Kontinuum von männlichem Dominanzverhalten über Grenzüberschreitungen hin zu Vergewaltigungen aus. Zugleich bleibt es wichtig, zwischen den verschiedenen Formen zu differenzieren bezüglich der Intention der Täter, des Ausmaßes der ausgeübten verbalen und/oder physischen Gewalt sowie des Leidens der Betroffenen.

Aus psychoanalytischer Perspektive hat Rolf Pohl auf den Zusammenhang von (heterosexueller) Männlichkeit und Misogynie hingewiesen, den er als Männlichkeitsdilemma benennt: “Nirgendwo ist der Mann schwächer als in der Sexualität […] Einerseits lastet auf ihm […] der Druck, autonom und keinesfalls abhängig zu sein. Andererseits bemerkt er in seinem Begehren, das er sehr wohl von Frauen abhängig ist. So ist in die Ausbildung von männlicher Sexualität eine ambivalente bis feindselige Haltung gegenüber Frauen und Weiblichkeit eingelagert.”. Männer bestrafen in dieser Hinsicht also mittels sexueller Grenzüberschreitungen und Gewalt Frauen für das Begehren, das sie bei Männern auslösen. Ein “Nein” seitens Frauen können sie demzufolge nur schwer oder gar nicht akzeptieren, weil es ihren Narzissmus verletzt und ihr Selbstbild als autonomes, überlegenes Subjekt verletzt. Durch die Grenzüberschreitung bzw. die sexuelle Gewalt werden Frauen wieder auf den Rang der Untergeordneten und Ohnmächtigen verwiesen, ebenjene Position, die Männer so sehr fürchten und daher verdrängen. Dieses Modell ist sicher sehr schematisch, bringt unseres Erachtens jedoch eine unbewusste psychische Disposition vieler Männer auf den Punkt.

(Post-)Moderne Männlichkeiten
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Geschlechterverhältnis aufgrund umfassender feministischer Kämpfe, aber auch parallel zur Weiterentwicklung des postfordistischen Kapitalismus modernisiert. An dieser Stelle können nur schlaglicht-artig einige Tendenzen dieser Transformation beschrieben werden. Kim Posster etwa weist auf den Wandel männlicher Herrschaft in der Sphäre der Lohnarbeit hin: “Bedeutende Teile der Arbeitswelt brauchen heute zum Beispiel keine offene Konkurrenz der Platzhirsche mehr, sondern ’emotional intelligente’ Team Player. Die nach wie vor bestehenden Boys’ Clubs gesellschaftlicher Machtzentren […] basieren nicht mehr auf einer klassischen patriarchalen Hackordnung, sondern auf flacheren Hierarchien, deren reibungsloser Ablauf von klassichen Mackergehabe eher gestört als befördert wird”. Sarah Speck schreibt hinsichtlich ihrer Studie zu reproduktiven Arrangements in scheinbar aufgeklärten, städtisch-modernen Milieus von “Konstellationen […], in denen die Frauen unter hohem beruflichen Druck die Familie am Laufen halten und die Männer, viele von ihnen in künstlerischen oder Kreativberufen tätig, Stunden um Stunden im Atelier, in ihrer Werkstatt oder Bürogemeinschaft verbringen”. Obwohl viele dieser alternativen Männer zwar im Gegensatz zu ihrer Väter-Generation verbal ihr Interesse und ihre Beteiligung an der Reproduktionsarbeit betonen, verbleibt in der Realität sowohl der Großteil der Sorgearbeit wie auch der emotionalen Last wieder bei den Frauen.

Offenbar existiert heutzutage eine gewisse, mitunter widersprüchliche Vielfalt an Erscheinungs-formen von Männlichkeit, die auch klassen-/schichtspezifisch variieren. Tradierte Formen soldatischer oder sportlicher Männlichkeit oder das im Fordismus hegemoniale Bild des männlichen Alleinverdieners wurden in den letzten Jahren zwar nicht überwunden, aber ergänzt um Formen kreativ-autonomer, kritisch-selbstreflexiver oder auch (scheinbar) egalitär-sorgendener Männlichkeit. Die Pluralität von Männlichkeitsformen macht in diesem Sinne auch eine Pluralität feministischer Kritik notwendig.

Gute Männer – schlechte Männer?

In den letzten Jahren ist hier der Begriff “toxische Männlichkeit” in Mode gekommen, um insbesondere die stereotypen, repressiven Vorstellungen der männlichen Geschlechterrolle zu kritisieren. Damit soll auch das eigene Leiden von Männern an den Idealen von Härte, Konkurrenz und Autonomie thematisiert werden. Zugleich wird der Begriff in der Praxis meist auf bestimmte Formen der Hypermaskulinität bezogen. Zur Aufteilung in toxische und kritische Männlichkeit heißt es in einem pro-feministischen Text: “Solche Unterscheidungen in gute und schlechte Männlichkeit halten wir für problematisch: Sie machen dem männlichen Bedürfnis nach Identifikation mit Männlichkeit ein Zugeständnis […] und vollziehen Modernisierungsprozesse patriarchaler Geschlechterverhältnisse auf der Sprachebene unkritisch nach: Längst ist es Teil neoliberaler Männlichkeitsanforderungen, dass auch cis Männer ihre Männlichkeit zum Teil bewusst gestalten, um besser zu funktionieren”. Das Konzept Toxische Männlichkeit kann so gesehen auch als eine Art Extremismustheorie der Männlichkeit verstanden werden. Nicht zufällig heißt ein Buch des prominenten Männlichkeitsforschers Thomas Gesterkamp “Jenseits von Feminismus und Antifeminismus. Plädoyer für eine eigenständige Männerpolitik”. Paul Hentze/Kim Posster warnen daher: “Männlichkeit kann so ‘entgiftet’ werden und gestärkt wieder auferstehen. Hier ist vor allem interessant, was nicht als toxisch-männlich verhandelt wird: zum Beispiel Leistungsethos, Sportlichkeit und das Selbstbild des Versorgers (der Familie). Als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen Misogynie und männlicher Selbstdisziplinierung, Körperkontrollidealen und Grenzverletzungen sowie vergeschlechtlichter Arbeitsteilung und Sexismus”. Der “Toxik”-Begriff kann also dazu dienen, sich zwischen Selbstoptimierung und Konkurrenz um den Titel “Bester Mann” zu verlieren und eine rundum-renovierte hegemoniale Männlichkeit befördern. Dabei handelt es sich nicht um eine rein akademische Theorie-Debatte um den korrekten Begriff. Die praktischen Auswirkungen in Bezug auf männliche Übergriffigkeit zeigt der oben bereits zitierte Text eines pro-feministischen Cafés aus Leipzig auf: “So kann zum Beispiel ein modernerer Mann, der als Täter in einer intimen Beziehung nicht auf Schläge mit der Faust, sondern auf Gaslighting, Psychologisieren und emotionale Manipulation zurückgreift, auch im Sinne der Legitimation seiner Täterschaft ein Interesse an der Unterscheidung zwischen ‘kritischer’ und ‘toxischer’ Männlichkeit haben”. Auch wenn es wichtig ist, zwischen verschiedenen Männlichkeitstypen und deren gewaltförmiger Wirkung zu differenzieren, besteht die Gefahr, sich zu sehr auf das Adjektiv (toxisch etc.) zu fixieren und die Kategorie Männlichkeit aus dem Blick zu verlieren. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für laut Selbstauskunft erklärtermaßen nicht-toxische, nämlich feministische Männer.

Feministische Männer – nur ein strategisches Label?

Es existieren viele Formen linker Männlichkeit, einige exemplarische Typen seien im Folgenden benannt:
der Antifa-Macker mit den Quarzhandschuhen in der Arschtasche
der grölende Fussball-Ultra
der alles organisierende Kader
der autonome Streetfighter
der stets oberkörperfreie Hippie
der dauerpalavernde Theorie-Macker
der ganz normale Mehrheits-Linke, der die Wirkung seines männlichen Auftretens nicht auf dem Schirm hat

Daneben existiert auch der feministische Mann. Er ist häufig knietief in der urbanen (queer-)feministischen, undogmatisch-hedonistischen Szene verankert, kennt die Inhalte feministischer Theorie und die einschlägigen feministischen Codes aus dem FF. Gewisse Formen des männlichen Umgangs sind ihm als “prollig” verpönt, punktuell werden sich queere Praxen wie lackierte Fingernägel angeeignet. Und eben jenem Typus können auch einige der Männer, die zuletzt als Täter von grenzüberschreitendem/übergriffigen Verhalten geoutet wurden, zugerechnet werden. Zum Teil wurden dabei offenbar auch Machtpositionen ausgenutzt, die nicht ausschließlich dem Geschlecht entspringen, mit diesem jedoch intersektional verbunden sind (Alter, kulturelles Kapital, Arbeitsbeziehungen etc.). Wie kommt es dazu, dass Männer, die sich als feministisch bezeichnen, zum Teil mehrfach und über Jahre die Grenzen von Frauen überschreiten? Wie geht das: “Nach außen für den Feminismus, aber leider frauenfeindlich” (Bilke Schnibbe)?

Wir haben dafür keine umfassende Erklärung, aber verschiedene Ansätze. Sicher kann man in bestimmten Kreisen mit feministischen Codes symbolische/soziale Bonuspunkte einfahren. Die diskursive feministische Hegemonie in manchen linken Kreisen kann mitunter den Effekt befördern, dass sich Männer über die Identifizierung als Feminist in der Männerkonkurrenz günstig positionieren möchten. Jeja Klein beschreibt diese spezifische Männlichkeit, die mit politischer Moral punktet: “Männlichkeit konstituiert sich zu einem guten Anteil in der beständigen Abgrenzung von anderen, vermeintlich schlechteren Männern. […] Wo sich Männlichkeiten für gewöhnlich an „Asis“, vermeintlichen Ausländern, Schwulen, Pädophilen, Gymnasiasten, Bürgersöhnchen, Weicheiern oder Mackern abarbeiten, halten sich linke Männer für besonders intellektuell, rebellisch, unabhängig, moralisch, feinfühlig oder kriegerisch. Dazu gehört das von den meisten abgetrotzte Lippenbekenntnis, irgendwie auch profeministisch […] zu sein”.

Der Feministen-Bonus verspricht mitunter einen moralischen Mehrwert, die praktische Umsetzung der rhetorischen feministischen Ansprüche erfolgt häufig nur begrenzt. “Nach außen für den Feminismus” kann auch bedeuten, dass sich die bekannte Trennung privat/öffentlich in einer linken Variante fortsetzt. In der Öffentlichkeit der linken Szene verhält mann sich korrekt und zurückhaltend, besucht feministische Veranstaltungen und gendert in Polit-Texten. Im privaten Alltag kann es dann schon anders aussehen: in der WG wird nicht gespült, der männliche Redeanteil in WG-Diskussionen soll auch nicht mit der Stechuhr gemesssen werden, und Gefühls- und Sorgetätigkeiten werden nicht oder nur bedingt übernommen. In einem feministischen Zine berichten Frauen von entsprechenden Erfahrungen. Sie haben verschiedene Muster der links-feministischen Männlichkeit ausgemacht, etwa “Der Hahn im Korb” (sich mit vielen Frauen umgeben), „a man is an island“ (Probleme und Konflikte mit sich selbst ausmachen), “Sprachlosigkeit” (sich bei Kritik zurückziehen), “Überforderung” (bei Kritik seine eigene Verletztheit in den Vordergrund stellen und dadurch Trost der Frauen einzufordern) oder “Verlagerung ins Persönliche” (patriarchale Muster als individuelles Verhalten entpolitisieren). In diesem Zine heißt es über die emotionale Arbeitsteilung zwischen den linken Geschlechtern: “Nahe, offene, liebevolle Freundschaften zwischen cis-Männern sind […] eher ungewöhnlich. Viele unserer cis-männlichen Freunde und Bekannten umgeben sich mit (cis-)Frauen in ihren Freund_innenkreisen, die quasi selbstverständlich die Beziehungsarbeit in diesen übernehmen […] Verstärkt wird das noch dadurch, dass vielen cis-Männern beigebracht wurde, es sei wertvoll den eigenen Willen gegen den der anderen durchzusetzen – was Machozüge annehmen kann. Es kann aber auch das ‘Man-baby’ sein, dem es immer schlecht geht und um das sich alle kümmern.”

In dem Text eines anderen Magazins wird das Phänomen des “post-feministischen Mackers” kritisiert, der “gerne davon faselt, dass und WIE gut er Frauen eigentlich behandelt […] Verabredet man sich […] aber auf ein Getränk mit ihm, weil man ihn für einen coolen Typen hält und auf gute Gespräche hofft, sieht man sich am Ende des Abends nicht selten in Erklärungsnot, warum man jetzt nicht automatisch Bock auf [Geschlechtsverkehr] hat […] Vom unterirdischen Umgang mit Frauen seiner männlichen Freunde möchte er sich deutlich abgrenzen, auf ihre Gesellschaft beim allwöchentlichen Sauf- und Koksgelage aber dennoch nicht verzichten”. Hier wird die soziale Nähe (mancher) linker Feministen zu übergriffigen Männern genannt. Mit den anderen Männern verbindet sie vorwiegend der Party-Exzess und die Politik, mit den Frauen das Emotionale und Sexuelle. Selbstverständlich verurteilen sie sexuelle Gewalt, finden vielleicht sogar das Definitionsmacht-Prinzip gut und schreiten ggf. auch bei Übergriffen Dritter ein. Die eigene Tendenz zur Grenzüberschreitung wird jedoch abgespalten. Zudem werden Übergriffe in der undogmatischen Linken in Relation zum gesellschaftliche Durchschnitt vermutlich noch häufiger im Party- und Drogen-Kontext verübt, also in Situationen, wo das Über-Ich aussetzt – oder man sich zumindest im Nachhinein darauf berufen kann.

Feministische Männer als gespaltene Subjekte!
Auch wenn sich aus dem Label “Feminist” in manchen linken Milieus moralischer Mehrwert ziehen lässt, wäre es unseres Erachtens falsch, den entsprechenden Männern eine reine Inszenierung oder bloße strategische Aneignung des Begriffs “Feminist” zu unterstellen. Vielmehr zeigt sich hier eine Männlichkeit im Widerspruch zwischen fortwesender traditioneller und transformierter moderner Männlichkeit einerseits, feministischen Anforderungen andererseits. Jenseits des feministischen Anspruchs wesen auf einer meist vorbewussten, der theoretischen Auseinandersetzung wenig zugänglichen Ebene männliche Muster von Körperlichkeit, Eigen- und Fremdwahrnehmung, Kommunikation und einem grundlegenden Mangel an Empathie fort. Eine Genossin, die diesen Text vorab begutachtete, bemerkte, dass auch linke Männer vielfach nicht fähig seien, sich emotional in andere hineinzuversetzen. Da sie diese Kompetenz nicht gelernt hätten, könnte sie auch nicht als fehlend erkannt werden. Man könne ja sogar wollen und nicht können. Gerade die Graubereiche und das Nicht-Intentionale in einer Betrachtung (linker) Männlichkeit sei so interessant und bliebe oft unberücksichtigt. Laut Kim Posster handelt es sich um “Männer, … die trotz subjektiver Ablehnung des Patriarchats in tiefen libidinösen, sozialen und ökonomischen Bindungen wie Abhängigkeiten von Männlichkeit leben”. Die Widersprüche ziehen sich durch die männlichen Subjekte durch, es entsteht eine „gespaltene Subjektivität“, wie es ein Genosse formulierte, der diesen Text vorab las. Gerade angesichts der weitgehenden gesellschaftlichen Irrelevanz der Linken, die sich schon aus ihrer zahlenmäßigen Schwäche ergibt, und der Übermacht des gesellschaftlich tief verankerten Patriarchats kann dieser Widerspruch kaum individuell von den einzelnen Subjekten und auch nur bedingt vom marginalen linksradikalen Kollektiv aufgelöst werden. Frühkindlich erlernte Verhaltensmuster und psychische Dispositionen, Leistungsethiken der Produktionssphäre, mediale Männerbilder oder, ganz banal, die samstägliche Präsenz betrunkener Fussballfans oder cooler Typen im Club lassen sich nicht einfach durch einzelne Workshops oder Gesprächsrunden wegreflektieren.

Dieser Widerspruch, als Mann sozialisiert zu sein und in einer patriarchalen Gesellschaft zu leben, und sich andererseits in einem vom Feminismus mit beeinflussten Milieu zu bewegen, wird jedoch nicht szene-öffentlich diskutiert. Meist vermutlich auch nicht privat – oder nur in sehr intimem Rahmen. Es entsteht eine Tabu-Situation: das individuell von den feministischen Männern Verdrängte wird auch kollektiv, von der Szene, verdrängt. Das widersprüchliche Spannungsverhältnis verschärft sich dadurch noch, es entsteht die Gefahr einer subjektiven Krise. Diese Krise wird von manchen Männern stillschweigend ausgehalten. Andere entfliehen ihr durch verschiedene Abwehrmechanismen, etwa eine politische Abkehr von der feministischen Linken, Re-Tradionalisierung von Männlichkeit, misogyne Verbal-Angriffe auf einzelne weibliche Feminist_innen oder punktuelles Ausleben von (sexuellen) Aggressionen und Grenz-überschreitungen. Da es so gut wie keine Räume gibt, wo angstfrei mit der beschriebenen Wider-sprüchlichkeit umgegangen werden kann, wird dann also das (partiell) feministische Über-Ich wieder durch die verdrängten, ansozialisierten männlichen Macht- und Herrschaftsimpulse ersetzt, die entweder nur in spezifischen Situationen oder sogar dauerhaft wieder die Oberhand gewinnen.

Jeja Klein hat in dem Text “Die Angst vor den Feministinnen” eindrücklich beschrieben, wie diese gespaltene Subjektivität und das Männlichkeitsdilemma sich in sexueller Hinsicht artikulieren: “Sexuelle Lust, die in männlich dominierten Gesellschaften zutiefst mit Gewalttätigkeit verwickelt ist, mit Dominanz, Unterwerfung, Eroberung, Besitz und Benutzung, bekommt bei linken Männern dadurch noch eine intensivere, deutliche Nachprägung: die der Angst vor der Bestrafung. Linke Frauen sind schlicht wesentlich mächtiger als vereinzelte, nichtlinke Frauen ohne feministische Aufklärung und weibliche Solidarität. […] Dadurch gewinnen linke Frauen eine unheimliche Macht […] sexuelle Macht vermittels ihrer Körper, politische Macht vermittels ihrer Organisation als Frauen, moralische Macht vermittels des Selbstbewusstseins ihrer objektiven gesellschaftlichen Lage. Das klassische Männlichkeitsdilemma, als Mann autonom sein zu sollen, als Begehrender jedoch vom weiblichen Gegenüber zutiefst abhängig zu sein, verschärft sich bei linken Männern […] Dadurch erleben sich diese Männer noch stärker als sonst ihres gewohnten Einflusses und ihrer Autonomie beraubt […] Sie wollten die großen Antworten auf die historisch drängende Revolution geben – und verheddern sich in scheinbar kleingeistigen Liebeskonflikten.”

Bei aller psychischen Verwickeltheit ins Patriarchat, bei aller Zwangsprägung durch die Gesellschaft und trotz aller immer wieder gescheiterten Befreiungsversuche: Die beschriebenen Männlichkeitsdynamiken sind kein unabänderliches Schicksal, und Männer sind ihnen nicht komplett ohnmächtig ausgeliefert. Allzulang ist eine explizite pro-feministische Praxis von Männern vernachlässigt worden. Dazu im Folgenden noch einige praktische Gedanken.

Für eine pro-feministische Praxis von Männern!

Sicher ist Reflektion über die eigene Verstrickung in das Patriarchat für Männer ein wichtiger Baustein in der Auseinandersetzung mit Männlichkeit. Darauf hat kürzlich Bilke Schnibbe hingewiesen: “Männer, auch solche, die keine Täter sind, haben Misogynie, Frauenfeindlichkeit, verinnerlicht, die sie sich selbst nicht eingestehen können, weil das ihren bewussten Werten entgegensteht […] Es reicht nicht, auf die anderen, die vermeintlich wirklich schlimmen Männer zu zeigen, es ist vielmehr nötig, in sich selbst nach misogynen Impulsen, Wünschen und Abgründen zu suchen, um für diese Verantwortung übernehmen zu können”. In den letzten Jahren ist in diesem Zug der Begriff des “Ally” zunehmend in Mode gekommen. Der Ally soll seine eigene Position reflektieren, Privilegien abgeben und die Unterdrückten unterstützen. Aus unserer Sicht kann der Ally, der Kuchen backt für die feministische Veranstaltung und sich auf die reine Unterstützerposition zurückzieht, nur bedingt ein positives Modell sein. In seiner Weigerung, als Ally eigene Position zu beziehen zu übernehmen, kann er mitunter sogar dem oben zitierten “Man-Baby” ähneln. Wie die “Gruppe ff” schrieb, darf die Verantwortung von Männern nicht auf “passive Hilfsgesten” reduziert werden: “Damit wird ihnen die eigene gesellschaftliche Analyse des Patriarchats abgenommen und somit auch die Beantwortung der Frage, welches Interesse sie selbst an seiner Abschaffung haben könnten”. Statt “Wohlfühlblasen” brauche es neben FLINT-Räumen auch “solidarische Bündnisse” von weiblichen und männlichen Feminist_innen.

Als eine Form des pro-feministischen Engagements werden zuletzt immer wieder die autonomen Männergruppen der 1990er-Jahre zitiert, deren Wirken z. T. in den online archivierten “Männer-Rundbriefen” archiviert ist. Bilke Schnibbe dazu: “Die profeministische Männerbewegung […] hat sicherlich […] Grundlagen gelegt. Hier braucht es ein deutlich stärkeres Engagement profeministischer Männer, die antifeministische Wendungen und Ausflüchte in der Männerarbeit konkret parieren können. Das ist allerdings auch kein Allheilmittel, da aus Männergruppen schnell männerbündische Strukturen entstehen können, in denen man oberflächlich feministisch an sich arbeitet, während misogyne Grundhaltungen unangetastet bleiben.” Eine solche pro-feministische Bewegung von Männern müsste also auf dem schmalen Grat wandeln zwischen der Solidarität mit den betroffenen Frauen und Queers, der Auseinandersetzung mit der eigenen, letzten Endes zu überwindenden Männlichkeit, sowie den versteinerten patriarchalen Verhältnissen, die Abweichungen von der männlichen Norm mitunter rigide bestrafen. Männer sollten sich also über den Besuch einzelner, in letzter Zeit recht beliebter Workshops zu “Kritischer Männlichkeit” hinaus dauerhaft pro-feministisch organisieren, auch um nicht die Last der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat auf die weiblichen Feminist_innen abzuwälzen. Inwieweit hier eigene Männer-Gruppen besser geeignet sind als gemischt-geschlechtliche Zusammenhänge, können wir derzeit nicht beurteilen.

In welcher Form auch immer: die Männer sollten in engem Austausch mit Frauen/Queers stehen, um die spezifischen Erfahrungen und Interessen der Letzteren immer wieder neu mitzudenken, aber auch um eigenen patriarchalen Tendenzen entgegen zu wirken. Dieser Spagat kann nicht ohne Fehler, ohne Verunsicherungen und Auseinandersetzung ablaufen. Bilke Schnibbe meint, daher “sollten Linke eine Fehlertoleranz in dieser Solidarität entwickeln, jedoch diejenigen, die Fehler machen, nicht aus der Verantwortung entlassen. Es braucht eine Streitkultur, die eine klar antisexistische und solidarische Haltung mit Betroffenen verteidigt und zugleich Fehler und Widersprüchlichkeit aushalten kann.” Mittels einer solchen Fehlerkultur und Streitbereitschaft könnte zwar die oben skizzierten Aufspaltung nicht vollständig aufgehoben, aber immerhin ihren grenzüberschreitenden und gewaltförmigen Konsequenzen entgegen gewirkt werden.

Aus unserer Sicht sollte die Reflektion und Organisierung auch zu einer inhaltlichen Schärfung radikaler, anti-identitärer Männlichkeitskritik führen. Edgar J. Forster definiert Männlichkeitskritik als “Analyse alltäglicher sexistischer Praktiken, der diese Praktiken zugrundeliegenden patriarchalen und phallozentrischen Strukturen. Männlichkeitskritik ist Machtkritik. […] Offen ist dieses Projekt, weil Männlichkeitskritik keine neuen Männerbilder entwirft. Männlichkeitskritik bezieht ihre Kraft nicht aus der ‘Krise von Männlichkeit’, sondern aus der Lust auf ein anderes Begehren”. Ein Begehren, so verstehen wir es, nicht als Lust auf eine alternative Männlichkeit, sondern als Befreiung von den Fesseln männlicher Identität. Auch wenn es wichtig ist, zwischen verschiedenen Männlichkeitstypen und deren Auswirkungen auf Frauen zu unterscheiden: aus unserer Sicht ist Männlichkeit grundsätzlich nicht positiv reformierbar. Statt Kritischer Männlichkeit fordern wir eine radikale Kritik der Männlichkeit mit dem perspektivischen, derzeit leider utopischen Ziel ihrer Abschaffung. Die Aufhebung der bipolaren Geschlechterordnung sollte nicht auf eine Vervielfältigung von Identitäten zielen, sondern Geschlecht als soziale Strukturkategorie und als Form/Identität/Habitus überwinden. Männer sollten an dieser Bewegung der Kritik mindestens ebenso wie Frauen und Queers mitarbeiten, und können hier zudem ihre spezifischen Perspektiven aus der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Männlichkeit mitbringen.

In Bezug auf den Anlass dieses Textes, sexuelle Übergriffe in der Linken, sollten pro-feministische Männer dringend auf breiterer und verbindlicher Basis praktisch werden. Hierzu mehrere Vorschläge, die wir aus der einschlägigen Literatur gezogen haben:
Prävention z. B. durch entsprechende Bildungsarbeit, inhaltliche Positionierung in linken Räumen, Mitdenken des Themas Übergriffe bei linken Veranstaltungen und Parties etc.
In Diskussionen gehen/kontinuierliches Ansprechen des Themas, ohne dass es dazu konkreter Ereignisse oder Druck von Seiten von Frauen bedarf
eigeninitiativ einen Blick für dominantes/aufdringliches Verhalten und sexuelle Grenzüberschreitungen von Männern entwickeln und diese Männer ansprechen, ohne sich selbst als “besseren Mann” zu inszenieren
Empathie erlernen/in empathischen Kontakt mit Frauen zu dem Thema treten und praktische Schritte anzubieten, die Frauen entlasten können (z. B. grenzüberschreitende Männer anzusprechen)
transformative Arbeit mit Tätern leisten
Gruppen bilden, die Betroffene in Fällen sexueller Gewalt unterstützen

Das sind viele kleine Schritte auf dem Weg zu einer Veränderung. So mühselig das sein kann, so wenig sollte diese Arbeit als Einschränkung oder zusätzliche Last (Nebenwiderspruch?) im Polit-Alltag verstanden werden. Es sind Schritte auf dem Weg vom patriarchal geprägten Mann zum freien Mensch. Hin zu einer “Zukunft des Mannes, in der er vielleicht eines Tages gar keiner mehr sein wird – in der er sich also den Zuschreibungen entziehen und frei sein, Mensch sein wird, ohne ein eingehegtes Andere dazu zu brauchen, ohne sich selbst einzuhegen” (Carolin Wiedemann). Oder, wie es das Bündnis “drift – feminist alliance for communism” ausdrückt: “Dies wäre eine Gesellschaft, in der Geschlecht nicht mehr mit Zuschreibungen verknüpft ist und somit kein reproduktives Organ den Verlauf eines gesamte/n Lebens bestimmen kann. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sind, in der Menschen lieben, wen sie wollen und selbst über ihre Körper verfügen”.

gruppe 8. mai – Sektion Männer
achtermai.blogsport.de

Ganz herzlichen Dank an alle Genoss*innen, die in den letzten Wochen mit g8m
diskutiert haben und deren Gedanken den Text entscheidend mit geprägt haben.

Solidarität mit den Alten, chronisch Kranken und Behinderten – Gegen Sozialdarwinismus, Querfront und Kapitalismus! Redebeitrag zu den Protesten gegen die „Hygiene-Demos“

Solidarität mit den Alten, chronisch Kranken und Behinderten –
Gegen Sozialdarwinismus, Querfront und Kapitalismus!
Redebeitrag zu den Protesten gegen die „Hygiene-Demos“

Es waren Berliner Linke, die die Hygiene-Demos und damit die Corona-Querfront angeschoben haben: Künstler_innen, ehemalige taz-Mitarbeitende, Antikapitalist_innen. Und immer noch beteiligen sich trotz aller Kritik Linke an solchen Querfront-Demos: in Aachen sprach mit Andrej Hunko ein Bundestagsabgeordneter der Linkspartei vor Rechtsradikalen. Bei einer Kundgebung von Attila Hildmann kamen Leute mit Thor Steinar- und Feine Sahne Fischfilet-Shirts zusammen. Und immer wieder sehen wir Gruppen von Bauchlinken, Hippies oder Alternativen in den Demos. Es ist erschreckend, wie offen diese Leute den antifaschistischen Konsens der Linken durchbrechen. Dabei sollte doch spätestens seit Auschwitz klar sein, für was Rechte stehen: für eliminatorischen Antisemitismus, für die rücksichtslose Vernichtung von Menschen, den radikalstmöglichen Massenmord. Also für das absolute Gegenteil einer besseren Gesellschaft.

Aber selbst wenn sich die ursprünglichen Initiator_innen der Hygiene-Demos nun von den Geistern, die sie riefen, distanzieren und von Nazis abgrenzen: das wirklich Erschreckende sind die inhaltlichen Schnittmengen mit den Rechten. Zu diesen Überschneidungen gab es in den letzten Wochen schon einige gute Analysen: manche Linke teilen mit deutschen Normalkartoffeln und Nazis den Fetisch, den Kapitalismus in den immergleichen Superreichen zu personalisieren. Auch teilen sie die Ideologie, der Staat sei eine Verschwörung von Wenigen, ein bloßes Instrument der Manipulation. Ähnlich sind auch die Ressentiments gegen die Medien, die „Lügenpresse“. Zurecht wurde von Antifas darauf hingewiesen, dass es wieder an der Zeit ist, die Waffen der Kritik zu schärfen. Genau hinzuschauen und zu streiten: Was ist Kapitalismus, was ist der Staat, was bedeutet die Totalität des falschen Ganzen, wie funktioniert Herrschaft? Aber auch: Wo sind wir selbst immer wieder in Widersprüche verstrickt, die uns ohnmächtig machen, von denen wir uns aber nicht dumm machen dürfen? Wir hoffen, dass sich nun wieder eine streitbare linke Bewegung entwickelt, die lautstark gegen Antisemitismus und Verschwörungsideologie vorgeht, und gleichzeitig die materiellen Grundlagen dieser Ideologien, also Staat und Kapital, effektiv angreift.

In diesem Zusammenhang möchten wir auf einen Punkt eingehen, der unseres Erachtens bisher in der Diskussion zu kurz kommt: der Sozialdarwinismus, der die Rechten, das Kapital und manche Linken verbindet. Das Corona-Virus ist bekanntlich eine tödliche Gefahr insbesondere für alte Menschen sowie Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen. Schon in der 2. Märzhälfte, wenige Tage nach dem Lockdown, wurden Stimmen laut, die den Schutz der Alten und Kranken in Frage stellten. So fragte ein bekannter Manager im Handelsblatt: “Ist es richtig, dass zehn Prozent der … Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden?” Der drohende Tod zahlloser Älterer und chronisch Kranker ist für diese Gesellschaft offenbar noch lange kein Argument, den (ökonomischen) Betrieb einmal ernsthaft auf Pause zu stellen. Das führte zu der Absurdität, dass es verboten allein war, alleine auf einer Parkbank zu sitzen, aber nicht, sich ohne Mindestabstand mit Dutzenden Arbeitskolleg*innen am Fließband oder im Büro aufzuhalten. Die nicht oder nur bedingt ökonomisch verwertbaren „Risikogruppen“ sollen nach dem Wunsch der Hygiene-Demos und bestimmter Kapital-Fraktionen einem tödlichen Risiko ausgesetzt werden, um nicht den eigenen Profit zu gefährden. Als über eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems diskutiert wurde, wurde es besonders menschenverachtend: Die sozialdarwinistische Haltung, Menschen mit Vorerkrankungen müssten eben sterben, wenn nicht genügend Intensiv-Betten vorhanden seien, wurde durch eine Stellungnahme medizinischer Fachgesellschaften legitimiert. Aktivist_innen der Behindertenbewegung kritisierten diese Stellungnahme als „Alptraum“ und „Einfallstor, um sich im Zweifelsfall gegen das Leben eines Menschen zu entscheiden, nur weil er eine Behinderung hat.“ Leider gab es dazu kaum linke Resonanz. Zuletzt wurden zahlreiche Lockerungen der Kontaktbeschränkungen seitens der Bundes- und Landespolitik beschlossen. Dies geschah v.a. auf Druck von wichtigen Kapitalfraktionen und auch aufgrund der medial viel beachteten Querfrontproteste. Auch wenn die Infektionszahlen derzeit glücklicherweise nach unten zeigen: Ggf. werden diese Lockerungen noch vielen Menschen das Leben kosten.

Was hat das nun mit der Linken zu tun? Unseres Erachtens hat die Linke im Gegensatz zu manch anderen Kämpfen, in denen sehr klar Stellung bezogen wird, bisher relativ indifferent auf die Corona-Krise reagiert. Es bleibt oft unklar, was genau mit der linken Solidarität gemeint ist. Seit Langem ist die Linke in Deutschland vorwiegend eine Jugendbewegung, die sich gerne als aktiv, dynamisch, modern und peppig inszeniert. Ältere und chronisch kranke Menschen passen mit ihren Anliegen, Bedürfnissen und ihrem Lifestyle oft nicht in diese linke Szene hinein. Ihre Themen scheinen weder sexy noch cool. Neben dieser sozialen und generationsbedingten Distanz zeigt sich auch eine theoretische Unschärfe der Linken. Themen wie Altern, Krankheit, Pflege und Sterben werden nur selten von Linken aufgegriffen, und noch seltener als systematischer Teil linker Gesellschaftskritik verstanden. Welche Linke beschäftigen sich etwa mit Jens Spahns Plan von 2019, Menschen mit Beatmungsbedarf zwangsweise aus ihren Wohnungen in Heime zu verlegen? Wann wird in Autonomen Zentren, besetzten Häusern oder auf linken Sommercamps schon mal über die soziale Entwertung von Rentner_innen, die nicht mehr arbeitsfähig sind, diskutiert? Wo gibt es linke Konzepte, wie der zunehmende Pflegebedarf in der Gesellschaft emanzipatorisch befriedigt werden kann?

Für uns ist klar: die sozialdarwinistische Abwertung von Alten und Kranken muss generell ein wichtiges linkes Thema sein. Und sie betrifft uns alle: jede_r von uns wird hoffentlich einmal alt, jede_r von uns kann einmal krank werden, jede_r soll schwach sein können! Es darf keine Unterscheidung in „lebenswertes“ und „unwertes“ Leben geben. Auch nicht in der Corona-Krise. Auch nicht, wenn eine Überlastung des kaputtgesparten Gesundheitswesens droht! Es ist eben nicht ok, wenn Menschen in manchen Pflegeheimen wie die Fliegen sterben, weil sie nicht ausreichend geschützt werden und der wirtschaftliche Betrieb wieder weitergehen soll! Das ist ein Skandal, und die radikale Linke muss diesen Skandal deutlich benennen! Wieso gibt es keine Demos vor den Betreibern der Pflegeeinrichtungen, die oft hohe Dividenden ausschütten, während die Gepflegten wegen des Personalmangels in den Heimen sozial isoliert werden? Wo bleiben die kreativen Aktionen gegen die Ärzte-Verbände, die sich für die Triage aussprechen und damit indirekt für das Sterbenlassen von Alten, Kranken, Behinderten? Wieso werden Kapitalist_innen und Politiker_innen, die Menschen aus Risikogruppen aktuell zur Arbeit mit Publikumsverkehr zwingen, nicht offensiv angegangen?

Wir wollen eine Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert. Ob jung oder alt, cool oder uncool, ist uns scheissegal. Jeder Mensch zählt. Sozialdarwinismus, Verachtung des Lebens, Affirmation des Todes sind für uns menschenfeindliche, rechte Konzepte. Das aktive Einverständnis mit dem Tod zahlreicher Menschen, das in der Corona-Krise immer wieder geäußert wird, bedeutet „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: … dem Staat, der Natur oder dem Gott“, wie es Herbert Marcuse einmal ausgedrückt hat.

Wir wenden uns gegen den Tod, gegen den Gott, gegen den Staat, gegen das Kapital und gegen das Diktat der toten Arbeit! Wir fordern ein schönes und möglichst langes Leben für Alle! Und das heißt in Corona-Zeiten: volle Solidarität mit alten, kranken und behinderten Menschen. Und für eine umfassende, globale Bekämpfung des Corona-Virus, so dass bald wieder alle Menschen voll an der Gesellschaft teilhaben können!

Corona du Opfer, gib Impfung – Kapitalismus du Opfer, gib gutes Leben!

gruppe 8. mai [berlin/wuhan/lagos]
achtermai.blogsport.de

Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise

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Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise

“Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst des Corona-Virus”
(Christian Drosten) [1]

Ein vehementer Angriff erschüttert derzeit den Globus: das Corona-Virus, das tödliche Konsequen-zen mit sich bringen kann, versetzt viele Menschen in Angst und Panik und stellt scheinbar alle sozialen Gewissheiten in Lichtgeschwindigkeit auf den Kopf. Auch die Welt der Autor_innen steht derzeit Kopf – der folgende Text versammelt einige Gedanken, Perspektiven und Forderungen, ist aber nur bedingt stringent und deckt sicher nicht alle relevanten Themenfelder ab. Neben der ambivalenten Rolle des Staates in der Corona-Krise wollen wir auch auf die Ebene des Subjektes eingehen und zum Ende einige politische Forderungen formulieren.

Gesunder Kapitalismus?
Die kapitalistische Gesellschaft ist bekanntermaßen auf Profit ausgerichtet: das Kapital beutet die Arbeiter_innen aus und eignet sich den von ihnen produzierten Mehrwert an. Der Staat ist, kurz gesagt, für die Gewährleistung der Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation zuständig. Dazu gehört auch die Gesundheit der Bevölkerung, an welcher der Staat prinzipiell ein Interesse hat, um sowohl die Produktion als auch Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten. Zu diesem Zweck unterhält der Staat in Deutschland etwa kommunale Gesundheitsämter, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und weitere nachgeordnete Bundesbehörden. Zudem existiert ein hochkomplexes Gesundheitswesen, das im Wesentlichen von den Krankenkassen und medizinischen Akteuren (Ärzteverbänden, Kliniken etc.) selbst verwaltet wird und für das der Staat lediglich die Rahmenbedingungen setzen soll.

Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einem Rückzug des Staates aus weiten Bereichen der Daseinsvorsorge bei gleichzeitiger autoritärer Formierung in Form des Ausbaus von Polizei, Militär und Überwachung. Im Zuge dieser Transformation seit den 1980er Jahren wurden auch in vielen Ländern der Welt die Gesundheitssysteme – analog zur Waren-Produktion – auf JustInTime-Systeme umgestellt. So wurden etwa Bettenkapazitäten abgebaut und die „blutige Entlassung“ nach Operationen eingeführt, Fallpauschalen eingeführt, Personal und Labore eingespart sowie Kliniken und Pflegeheime privatisiert. Eine Entwicklung die u.a. dazu führte, dass Menschen in Pflegeheimen mitunter vor sich hin vegetieren, während zugleich Pflegeheim-Ketten zu den profitabelsten Kapital-Anlagen avancierten. Das Virus trifft damit – zumindest in Deutschland – auf ein auf Kante genähtes , profit-orientiertes Gesundheitssystem, das seit Jahren ohne große Konsequenzen im Modus des Pflege-Notstandes läuft.

Starker Staat …!?
Wie reagiert nun der Staat? Im bekannten kapitalistischen Krisen-Modus wird das Parlament und die politische Opposition wie auch die kritische Zivilgesellschaft (ganz zu schweigen von der außer-parlamentarischen Linken) quasi umgehend bedeutungslos. Bundesweite politische Akteure er-scheinen hauptsächlich in Person der Kanzlerin, einzelner Bundesminister sowie der Ministerpräsidenten. Sie treffen ihre Entscheidungen unter Einbezug des medizinischen Experten-Wissens, personalisiert durch den neuen Posterboy der Nation, den Virologen Christian Drosten. Expert_innen anderer Berufszweige (Politikwissenschaftler_innen, Jurist_innen, Psycholog_innen etc.), geschweige denn dissidente Meinungen, finden kaum noch Gehör.

D.h. die Exekutive regiert weitgehend durch und bedient sich dabei stark des Instruments der Ver-ordnung, die im Gegensatz zum Gesetz nicht das Parlament passieren müssen. Das Parlament als der klassische Ort der Selbstreflektion der bürgerlichen Gesellschaft ist somit weitgehend ausgehebelt. Wo der Bundestag doch noch einbezogen wird, winkt er größtenteils in vorauseilendem Gehorsam eilig formulierte Gesetze durch. Aktuell wurde am 24.03.2020 die Überwindung des föderalistischen Prinzips auf der Ebene des Infektionsschutzes von einer breiten Mehrheit verabschiedet, nur AfD und Linkspartei enthielten sich. Mit diesem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite” hat die Bundesregierung Kompetenzen der Länder an sich gezogen, weitreichende (digitale) Überwachungsbefugnisse installiert sowie die Gesundheitsämter zur Umsetzung verschärfter Ausgangssperren und Ortsverbote befähigt. Nur ein Beispiel von Mehreren, das zeigt, wie Grundrechte wie das Recht auf Bewegungsfreiheit und auf informationelle Selbstbestimmung derzeit ohne wirklichen Widerspruch beschnitten werden.

Zugleich verfolgt die Bundesregierung eine offen nationalistische Politik, die ebenfalls loyal von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird. Anfang März hatte ausgerechnet der Exportwelt-meister Deutschland ein zweiwöchiges Verbot des Exports medizinischer Schutzausrüstung ins Ausland erlassen. Dieses Verbot wurde in der zweiten Märzhälfte durch eine EU-Verordnung gekippt, die nun wieder einen Export ermöglicht – allerdings nur innerhalb des EU-Binnenmarktes. Zudem wurden in den letzten Wochen immer mehr Grenzen zu den Nachbarländern Deutschlands geschlossen. Offenbar ging Berlin im Alleingang vor und hat damit das Schengener Abkommen ausgehebelt, zum Ärger der offiziellen Politik Frankreichs und Italiens. Nicht einmal deren diplomatische Kritik an der Bundesregierung wird hierzulande noch zur Kenntnis genommen Dabei handelt es sich bei den Grenzschließungen um eine komplett ideologische Maßnahme, die keine epidemiologische/medizinische Evidenz im Kampf gegen die Pandemie hat. Es geht lediglich um das Signalisieren von Handlungsmacht und Souveränität, wohl auch um rassistischen Befürchtungen bezüglich eines zweitens 2015 (Einreise hunderttausender Geflüchteter) zuvor zu kommen.

Im Zuge der autoritären Formierung der letzten Jahre wurde auch ein weiterer Akteur der Exekutive weiter gestärkt: die Polizei. Sie mauserte sich oft zum eigenständigen politischen Player, etwa in der Hetze gegen linke Bewegungen (vgl. Connewitzer Silvesternacht). Die Polizei wird nun auch die bundesweiten Ausgangsbeschränkungen durchsetzen und es wird zu beobachten sein, wie sie hier agiert. Erste Erfahrungen aus Frankreich zeigen eine hohe Aggressivität der flics und eine Fokussierung auf die Stadtteile der sozial Benachteiligten. In Deutschland scheint bisher allein die starke Polizei-Präsenz auf der Straße schon einschüchternd auf die Untertanen zu wirken. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Personengruppen wie PoC, Wohnungslose und Drogenkonsument_innen, die vorher schon im Fokus der Repression standen, nun noch stärker polizeilich drangsaliert werden.

Parallel zu den repressiven Formaten werden von der Politik ungewöhnlich umfangreiche Finanz-Programme aufgelegt, die sich an Banken und Unternehmen richten, aber auch einige Härten der Corona-Krise für kleine Selbstständige, Mieter_innen etc. auffangen sollen. Plötzlich fällt etwa die Vermögensprüfung auf Grundsicherung weitgehend weg, die lange ein fester Pfeiler des Verar-mungsprogramms HartzIV war. Jedoch wurden diese Erleichterungen wohl vor allem installiert, um die kommende Antragsflut überhaupt durch die Jobcenter bewältigen zu können, sowie um möglichen sozial unerwünschten Folgen der Verarmung breiter Schichten (Anstieg von Suiziden und selbstschädigendem Verhalten, erhöhte Kriminalität, Verrohung etc.) entgegen zu wirken. Wie weitreichend einzelne Maßnahmen auf den ersten Blick auch scheinen: sie können die tiefen ökonomischen Einschnitte des derzeitigen Ausnahmezustands mit Sicherheit nicht ausgleichen, maximal etwas abmildern.

Reaktionäre Begleitrhetorik

Begleitet wird die Krise von einer politischen und medialen Rhetorik des Ausnahmezustands, des Appellierens an Gemeinschaft und Solidarität, des Durchhaltens und Engagements. Mehr oder weniger offen wird eine Nationalisierung des Diskurses betrieben, wenn etwa die Kanzlerin in ihrer An-sprache von einer „Herausforderung an unser Land“ wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr spricht. Als ob der 2. Weltkrieg wie eine Naturkatastrophe über die Deutschen hereingebrochen wäre und nicht ein von ihnen initiierten Vernichtungskrieg gewesen wäre. Auch kulturindustriell wird schwarz-rot-gold gewedelt, wenn etwa der Rapper LGoony plötzlich „Desinfektion“ auf „Nation“ reimt und Capital Bra an sein Publikum als „Deutsche“ (sowie „Österreicher und Schweizer“) appelliert. Vom rechten Rand werden fleißig rassistische Projektionen auf Asiat*innen und Geflüchtete sowie antisemitische Verschwörungstheorien in Umlauf gebracht. In SocialMedia sind diese Feindbilder derzeit durchaus relevant. Die diversen angeblichen oder tatsächlichen „Nachbarschaftshilfen“ von Rechts sind derzeit von uns in ihrer Wirkmächtigkeit noch nicht einzuschätzen. In den etablierten Medien spielen AfD und Co. hingegen im Gegensatz zu den letzten Jahren kaum eine Rolle.

… schwacher Staat!?

Die aktuelle Tendenz zum autoritären Maßnahmenstaat ist deutlich zu kritisieren, zumal die vor Kurzem noch unvorstellbare Repression durch ein gutes Gesundheitswesen, ein frühzeitiges Ernstnehmen der nahenden Pandemie, die massenhafte Ausweitung von Tests etc. zu vermeiden gewesen wäre. Es wäre jedoch zu eindimensional, den Staat nur als allmächtige Unterdrückungsmaschine zu betrachten, der die Krise inszeniert, um sein Repressionsarsenal auszubauen. Das psychische wie physische Leid, das durch Corona hervorgerufen wird, ist fucking real! Schwere Lungenentzündungen, heftige Atemnot, hohes Fieber und elender Zustand über Tage oder Wochen – so sieht die Bilanz für viele der Erkrankten aus. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Infizierten werden klinische Behandlungen, künstliche Beatmung und Behandlung auf der Intensivstation notwendig. Schlussendlich bedeutet Corona für einen von Region zu Region variierenden Anteil der Infizierten den Tod. Vor Allem ältere und chronisch kranke Menschen sind von solchen gravierenden Verläufen bis hin zum tödlichen Ausgang betroffen. Aber auch für jüngere Menschen kann eine Corona-Infizierung mitunter massive akute und ggf. auch chronische Folgen haben.

Der Staat ist daher neben seiner gewaltförmig-repressiven Seite mindestens ebenso für sein Ver-sagen, den Schutz und die Gesundheit der Einzelnen zu gewährleisten, zu kritisieren. Im österrei-chischen Ischgl wurde etwa die Corona-Welle lange nicht thematisiert, um den Ski-Tourismus nicht zu gefährden. Am Beispiel Ischgl zeigt sich unter dem Brennglas, wie Kapital und Staat die Gesundheit vieler Menschen zugunsten des Profits opfern. Auch in China wurden tausende Menschenleben geopfert, nicht weil der Staat zu repressiv handelte, sondern weil er zu spät eingriff – und auf frühe Warnungen nicht hörte bzw. diese sogar aktiv unterdrückte. Ebenso wurde der Virus in faschistoiden Regimen wie dem Iran nicht ernst genommen, sondern sogar geleugnet, oder die Ausbreitung noch befördert durch religiöse Praxen wie das Besuchen von heiligen Stätten. Die staatliche Autorität hat in diesen Fällen also nicht den Virus instrumentalisiert, um die Dissidenz niederzuhalten, sondern im Gegenteil hat sich der Staat hier mit dem tödlichen Virus gegen die Bevölkerung verbündet. Derartige staatliche Untätigkeit und verzögerte Krisenbekämpfung wird zehn-, vielleicht hunderttausenden oder mehr Menschen das Leben kosten.

… Staat des Kapitals!
Der Staat zeigt sich so betrachtet zugleich als starker und als ohnmächtiger Staat, der die Unversehrtheit der Menschen nicht garantieren kann, da er unter dem Primat des Kapitals steht. Selbst jetzt, wo in Deutschland beinahe das komplette soziale Leben still gelegt wird – sogar Friedhöfe wurden geschlossen – wird die Arbeitspflicht nicht ausgesetzt. Die deutsche Ontologie der Arbeit macht den Gedanken, dass nun einmal die Produktion komplett stillstehen muss, offenbar undenk-bar. Das führt zu absurden Szenen, wenn etwa die Polizei Menschen, die allein im Park sitzen, verwarnt, und wenige Meter weiter aber Bauarbeiter_innen in engen Gruppen zusammenstehen oder ein Meeting in geschlossenen Büroräumen stattfindet.

Die Ausgangsbeschränkungen gelten also „nicht der wertschöpfenden Tätigkeit, sondern der Lust. Dabei stehen die einzelnen Spaziergänger … wohl kaum im Verhältnis zu den Virenherden Büro und Produktionsstraße.“ Von der Linken sollte daher „auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geblickt werden und die Kapitalisten zur Rechenschaft gezogen werden, da hier Arbeiter entweder Gesundheit oder Lohn riskieren.“ [2] Wie in Deutschland nicht anders zu erwarten, reagieren die Gewerkschaften jedoch vorwiegend handzahm. Ein von weiten Kreisen geteilter Aufruf zum Generalstreik wie in Italien ist hierzulande kaum vorstellbar. Die proletarische Passivität wird sich vermutlich noch deutlich rächen. Dabei ginge es aus Sicht der Arbeiter_innen nicht allein um das Ansteckungsrisiko in den Betrieben und Büros! Auch die noch relativ privilegierten Mittelschichts-Angehörigen, die im HomeOffice arbeiten, leiden massiv unter der dauernden Kinderbetreuung aufgrund der Kita- und Schulschließung, der mannigfaltigen Aufhebung der Trennung von Privatem und Beruflichen sowie dem Zwang, sich in einer psychischen Ausnahmesituation auf Lohnarbeit zu konzentrieren.

… Einvernehmen mit dem Tod als Einvernehmen mit dem Staat
Seit einigen Tagen ist das Kapital nun auch propagandistisch erneut in der Offensive und findet in der bürgerlichen Presse wieder Gehör. So fragte Alexander Dibelius, einflussreicher Manager und früherer Deutschlandchef der Investmentbank Goldman Sachs, im Interview mit dem Handelsblatt am 24.03.2020: “Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden” – dies “mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?” Der drohende Tod zahlloser Älterer und chronisch Kranker ist für diese Gesellschaft eben noch lange kein valides Argument, den (ökonomischen) Betrieb einmal auf Pause zu stellen. Wie in den schon lange währenden Diskursen um „Priorisierung“ im Gesundheitswesen und die Frage nach der Bezahlbarkeit künstlicher Hüftgelenke für alte Menschen zeigt sich hier auch ein sozialdarwinistisches Element: die für das Kapital sowieso nicht oder nur marginal verwertbaren „Risikogruppen“ sollen dem tödlichen Risiko ausgesetzt werden, um nicht den eigenen Profit zu gefährden. „Bis in hochgebildete und standesgemäß linksliberale Kreise hinein herrscht die Überzeugung vor, dass es schon irgendwie okay und verschmerzbar ist, wenn Alte und Kranke früher sterben. Noch wie in der Kindheit stehe ich allein mit meinem Entsetzen, wenn von Frischverstorbenen quasi entschuldigend gesagt wird, sie seien immerhin ‚schon sehr alt gewesen‘ – so als hätten sie vielleicht nicht noch Bock auf ein, zwei Nachmittage mit Likör gehabt.“ (Leo Fischer).

Am 25.03. wird die sozialdarwinistische Position, man müsse aussichtslos Kranke zugunsten von Menschen mit besseren Überlebensaussichten sterben lassen, von Seiten ärztlicher Fachgesellschaften und sogenannter Medizinethiker auch fachlich legitimiert: „Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenommen werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden“, heißt es. Es sei „unausweichlich“, eine Auswahl zu treffen, welche Personen akut- oder intensivmedizinisch behandelt werden „und welche nicht (oder nicht mehr).“ [3] Implizit sind damit v.a. alte Menschen, aber auch Menschen mit Behinderung oder schweren Krankheiten gemeint. Der in kapitalistischer Sicht gegen Null tendierende Wert der Alten und Kranken wird so in den nächsten Wochen fortlaufend gegen den kapitalistischen Mehr-Wert abgewogen werden. Es steht zu befürchten, dass sich die Interessen des Kapitals durchsetzen werden, wenn nicht endlich deutliche Gegenstimmen laut werden.

Im Gegensatz zu manch anderen Kämpfen, in denen sehr klar Stellung bezogen wird, scheint die Linke konfus und indifferent angesichts der eklatanten sozialdarwinistischen Menschenverachtung des Kapitals. Klare Positionen können hingegen aus älteren Schriften der Kritischen Theorie bezogen werden: „Der Tod ist die größte Angst des Menschen. Das Projekt der Aufklärung ist, von den Menschen die Angst zu nehmen“ (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer). Der Tod ist der Kritischen Theorie zufolge die „härteste Gegenutopie“ (Ernst Bloch). Das aktive Einverständnis mit dem Tod zahlreicher Menschen bedeutet „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott“ (Herbert Marcuse). Vor einigen Jahren warnte der Text „16 Thesen zum Scheitern der Linken am Tod“ in drastischen Worten, die sich angesichts der Corona-Krise besonders aktuell lesen: „Die heutigen Diskussionen um ‚lebenswertes‘ Leben teilen ihre Grundlage mit dem nationalsozialistischen Denken: das identifizierende, bürgerliche Bewusstsein, das Menschen auf ihre Verwertbarkeit hin unterteilt und alles (vermeintlich) Andersartige als Bedrohung wahrnimmt. Die Unterscheidung von ‚wertem‘ und ‚unwertem‘ Leben ist auch in den heutigen Todesdiskussionen, etwa um Sterbehilfe, Patient_innenverfügung, Organspende aber auch Pränataldiagnostik etc. präsent.“ [4]

Vertiefung gesellschaftlicher Widersprüche
In der Krise spitzen sich auch jenseits des engen Terrains des Gesundheitswesens die gesellschaftlichen Widersprüche zu. Die Spaltung in Deutsche und Migrant_innen verschärft sich etwa, wenn als asiatisch gelesene Menschen auf der Straße angegriffen werden – aber auch die strukturelle Benachteiligung, wenn etwa lebensnotwendige offizielle Informationen zu Corona vorwiegend in deutscher Sprache verfügbar sind. Die Spaltung zwischen Staatsbürger_innen und Geflüchteten verschärft sich zudem insbesondere durch deren rechtliche Schlechterstellung und Lager-Unterbringung, welche die Ansteckungsgefahr wie auch die Dimensionen der Quarantäne exponentiell verschärft. Die Spaltung von Besitzenden und Besitzlosen verschärft sich, wenn sich etwa Vermögende auf Landsitze zurückziehen und Privatkliniken in Anspruch nehmen können, während arme Menschen auf beengtem (urbanen) Raum miteinander leben müssen. Oder gar als Obdachlose kaum noch Zugang zu Essen, Geld, Finanzen und Übernachtungsmöglichkeiten finden. Und wenn auch einige – bei Weitem nicht alle – der als „systemrelevant“ deklarierten Berufe wie die Pflege oder Supermarktpersonal weiblich codiert sind, verschärft sich in der Krise auch der patriarchale Charakter der Gesellschaft. Insbesondere die Schließungen von Kitas und Schulen verstärken den Reproduktionsdruck und zwingen vielen Frauen, die Kinder betreuen, extraordinäre Zusatzbelastungen auf. Erfahrungen aus China zeigen zudem, dass es hier durch den Lockdown zu einem Anstieg häuslicher Gewalt kam – erste Zahlen der Berliner Polizei von Ende März deuten auf eine vergleichbare Entwicklung in Deutschland hin.

Die sozialen Folgen der Ausgangsbeschränkungen sind derzeit noch nicht abzusehen. Jedenfalls müssen die Menschen, die nun ggf. aufgrund von psychische Belastungen in den Suizid getrieben werden, die Junkies die an unreinem Stoff sterben, die Menschen denen nun reguläre Gesundheitsleistungen nicht mehr zugänglich sind, oder diejenigen, deren Gesundheit durch die plötzliche Verarmung belastet wird, als indirekte Opfer noch zu den direkten Opfer der Pandemie hinzu gezählt werden. Der Kapitalismus zeigt somit erneut seine Unfähigkeit, für ein gutes Leben zu sorgen: erst werden Gesundheitssysteme aus Profitgründen abgebaut, dann wird zu spät auf eine evidente Gefahr reagiert, und schließlich bringt die staatliche Reaktion wieder zahlreiche Menschen in existentielle Nöte.

Zwischen Klopapier und Corona-Party – Regression und Ohnmacht der Subjekte

Was bedeutet die Corona-Krise nun für die einzelnen Menschen? In der kapitalistischen Gesellschaft treten sich die Individuen objektiv als Vereinzelte gegenüber, die in Konkurrenz zueinander stehen. Als Subjekte entwerfen sie eine Selbsterzählung von einem kohärenten, mit sich selbst identischen Ich, das weitgehend autonom seine eigenen Absichten verfolgt. Was dieser Erzählung vom autonomen und rationalen Leben entgegensteht, wird verdrängt auf „die Anderen“ projiziert – so etwa in der rassistischen Figur „Die Ausländer nehmen mir die Arbeitsplätze weg“.

Wurde dieses Narrativ eines autonomen Subjekts schon in den letzten Jahrzehnten durch die zu-nehmende Prekarisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft immer brüchiger, zerplatzt diese Erzählung nun wie eine Seifenblase. Lange gehegte Selbstverständlichkeiten – soziale Rituale wie Händeschütteln und Umarmungen zur Begrüßung, die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, der gesellige Austausch in der Freizeit etc. – werden in rasanter Geschwindigkeit in Frage gestellt. Die verdrängte Abhängigkeit von Dritten, die in einer globalisierten Welt tendenziell eine globale Ab-hängigkeit bedeutet, wird den Subjekten in der Corona-Krise schockartig vor Augen geführt. Sogar die kurzfristige Planung der kommenden Tage gestaltet sich äußerst prekär. Die scheinbare Naturkatastrophe bricht über die Einzelnen in Form der ununterbrochenen Informationsflut der medialen Live-Ticker und Timelines einher. Daraus resultiert das Gefühl eines totalen Kontrollverlustes über den eigenen sozialen Nahbereich und die eigenen Lebenspläne, eine beinahe komplette Ohnmacht.

Zum Verlust des Autonomie-Gefühls treten existenzielle Ängste und Sorgen um die ausreichende Verfügbarkeit von Lebensmitteln sowie um die angesichts des Corona-Virus ungewisse körperliche Unversehrtheit der eigenen Person wie auch vieler Nahestehender. Neben der oben erwähnten nationalistisch angehauchten Durchhalte-Rhetorik existieren kaum kollektiven Bewältigungsstrategien – öffentliche Schrei- oder Heultherapien gibt es nicht, und auch das vermittelte Ausagieren von Aggression etwa im Sportverein entfällt derzeit. Lediglich die punktuelle Solidarität etwa in Form nachbarschaftlicher Initiativen kann Manchen etwas Handlungsmacht und Sicherheit zurückgeben. Die überwältigenden und widersprüchlichen Affekte müssen daher vorwiegend im Privaten, im sozialen Nahumfeld des Freundes- und Familienkreis, oder angesichts der fortschreitenden Quarantänisierung und (Selbst-)Isolation sogar komplett allein ausgetragen werden. Das eigene Heim – wo es existiert, was im Falle von Geflüchteten, Obdachlosen, Inhaftierten etc. nicht der Fall ist – wird zur Schutz- und Trutzburg gegen den Virus, der im Außen tobt. Im Corona-Biedermeier putzen, polieren und renovieren die Deutschen ihre Wohnungen, wie sie nun ihre Hinterteile mit dem im Überfluss gehamsterten Klopapier zum Exzess abwischen können. Die Regression auf infantile Verhaltensmuster aus der Kindheit, die derzeit haufenweise stattfindet und tatsächlich Trost und Geborgenheit inmitten des Chaos stiftet, findet auf nationaler Ebene ihre Entsprechung im Putzfimmel und dem Klopapier-Hamstern: die Deutschen regredieren in der Krise kollektiv auf den analen Charakter, auf die ursprüngliche Gemeinschaftserfahrung des deutschen „Volkes“ von Sicherheit, Sauberkeit, Ordnung und Arbeit/Produktion. Dem entspricht das Ressentiment gegen die lustorientierten und ausschweifenden (angeblichen) Corona-Parties, deren Teilnehmende sich nicht Merkels Ruf nach „Verzicht und Opfer“ (22.03.2020) fügen wollen. Glücklicherweise ist der Vernich-tungsimpuls im Postnazismus weit weniger stark ausgeprägt als 1933-1945. Daher geht derzeit auch keine Corona-Bürgerwehr in SA-Uniformen auf der Jagd nach „Volksfeinden“. Vielmehr prä-gen den öffentlichen Raum neben der Polizei Spaziergänger_innen und die Jogger_innen, die mit ihrer individuellen Selbstoptimierung das perfekt an die Krise angepasste, flexibilisierte Subjekt ab-geben.

Corona und die Linke
Aus der Linken gibt es bisher wenige klare Antworten auf die Corona-Krise. Auch die Linke wurde von der Pandemie komplett überrascht und paralysiert, zumal Gesundheitspolitik bis auf wenige Initiativen in der Pflege, die Bewegung gegen den §218 oder rund um die kleinen Krüppel- und Antipsychiatriebewegungen kein von links besetztes Thema ist. Offenbar fällt es vielen Linken auch schwer, die Ambivalenz der aktuellen Vorgänge zu erfassen, die nicht auf althergebrachte Nenner zu bringen ist. Entsprechend eher mager und zum Teil wirr fielen erste Stellungnahmen aus. Das Spektrum reichte von linksliberalem Sozialdarwinismus [5], die Rede von der „Corona-Hysterie“ (indymedia), vielen Aufrufen und Praxen der Nachbarschafssolidarität und Texte zur Anti-Repression bis hin zu zuletzt vermehrt erscheinenden antirassistischen, materialistischen und klassenkämpferischen Analysen. Einige wichtige Forderungen haben sich so herauskristallisiert, die wir abschließend sammeln und ergänzen möchten:

Wie könnte ein linksradikales Programm aussehen?
– Generalstreik in allen Sektoren, die nicht von akuter Relevanz sind!
Da wo weiterhin gearbeitet werden muss, um die gesellschaftliche Reproduktion und die Überwindung der Pandemie zu ermöglichen, müssen die Bedingungen radikal und sofort verbessert werden, z. B. durch Verdopplung des Lohns, konsequenten Gesundheitsschutz, Physical Distancing, Einhaltung von Pausenregeln etc. Auch die Arbeitsbedingungen im HomeOffice müssen verbessert werden. Zudem könnten die dadurch freigesetzten Zeitressourcen genutzt werden, um auf freiwilliger Basis die Reproduktion des überlasteten medizinischen und pflegerischen Personals (z. B. durch Einkaufshilfen) zu gewähr-leisten

– Sofortige radikale Aufstockung der (intensiv-)medizinischen Kapazitäten, um die drohende Überlastung des Systems und den Einsatz der „Triage“ abzuwenden!
Kein Mensch darf sterben (gelassen werden), weil sie_er alt oder krank ist! Ganzheitliche psychosoziale, medizinische und pflegerische Unterstützung für alle Alten, chronisch Kranken, Menschen mit Behinderung und psychisch Belasteten!

– Miet-Generalstreik!
Es ist angesichts der vorherrschenden finanziellen Unsicherheit nicht zumutbar, weiterhin Mieten, Hypotheken, Kredite etc. zu zahlen!

– Bedingungsloses Grundeinkommen von 3.000 Euro für Alle!
Unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Unbürokratische Auszahlung ohne Zwang zur indivuellen Antragsstellung

– Besetzung allen Leerstand, Hotels, Büroräume!
Räume schaffen für gutes und hygienisches Wohnen für Geflüchtete, Obdachlose und alle, die jetzt in beengten Verhältnissen leben

– Antinationale Perspektiven verbreiten!
Ein Virus, der sich über physische Nähe überträgt, kann nicht mittels nationaler Grenzen bekämpft werden! Wir brauchen eine universelle, kosmopolitische Bewegung. Ein_e Corona-Tote_r in Kreuzberg, New York oder Tübingen ist genauso schlimm wie in Wuhan, Lagos oder Kairo

– (Psychische) Gesundheit als Handlungsfeld ernst nehmen und kostenlose Gesundheitsversorgung für Alle!
Gesundheit als eine wichtige Grundlage für ein gutes Leben muss stärker in den Fokus auch linker Analysen rücken. Kurzfristig bedarf es zudem des Ausbaus einer psychosozialen Unterstützungsstruktur, um die durch die Pandemie verursachten mannigfaltigen psychischen Krisen aufzufangen

– Emanzipatorische Trauerarbeit entwickeln!
Weltweit werden in den kommenden Wochen und Monaten viele Menschen durch den Corona-Virus sterben. Auch Genoss_innen werden davon nicht ausgenommen sein. Die Linke (in Deutschland) hat bisher kaum eigene Trauerrituale, Trauer ist meist religiös und/oder familiär besetzt. Ggf. kann die queere AIDS-Bewegung der 1980er-Jahre hier ein Vorbild sein.

– Sachzwänge überwinden und am Lustprinzip festhalten!
Wenn wir es wollen, ist auch unter den Bedingungen physischer Distanz Vieles möglich!

Unter dem Regime des physical distancings ist es eine besondere Herausforderung, Protest und Subversion zu organisieren. Wir freuen uns, wenn ihr diese Inhalte off- wie online im öffentlichen Raum via Transparenten, Graffiti etc. verbreitet. Eine Möglichkeit könnten auch Hashtag-Kampagnen (z. B. #corona_generalstreik), koordinierte Shitstorms gegen die Accounts der Herr-schaft oder digitale Blockaden bestimmter Websites sein. Auch kreative Aktionen gegen Ärzte- und Kapital-Verbände sowie andere reaktionäre Kräfte, die sich nun mit sozialdarwinistischen Triage-Forderungen, Hetze gegen alte und kranke Menschen und Arbeitswahn hervortun, sind im Bereich des Möglichen.

“Zart wäre einzig das Gröbste: dass niemand künstlich beatmet werden muss.” [6]

Corona du Opfer, gib Impfung – Kapitalismus du Opfer, gib gutes Leben!
Für radikale Empathie und Zärtlichkeit. Nie wieder Profitorientierung!


gruppe 8. mai [berlin/wuhan/lagos]
achtermai.blogsport.de

Fußnoten:
[1] Fiktive Aussage, in Anlehnung an Karl Marx: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“
[2] https://twitter.com/B___Walther
[3] Aus dem Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111377/Mediziner-nennen-Kriterien-zu-Entscheidungen-ueber-Leben-und-Tod Die erwähnte Stellungnahme „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie Klinisch-ethische Empfehlungen“ stammt von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, der Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und der Akademie für Ethik in der Medizin
[4] http://somost.blogsport.de/16-thesen/
[5] „Einer der natürlichsten und für die Population gesündesten Vorgänge der Welt, das Sterben alter Individuen, wird plötzlich zu einer Ungeheuerlichkeit“, so die linksliberale Bloggerin Meike Lobo.
[6] In Anlehnung an Theodor W. Adorno: “Zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll.“

Nach Hanau: Aufruf zu migrantischem Generalstreik und Tag des Zorns

Zur Dokumentation und Weiterverbreitung:

Liebe Freund*innen, liebe Genoss*innen,

wir migrantischen Selbstorganisationen rufen unsere Geschwister und Genoss*innen am 08. Mai 2020 zu einem Tag des Zorns und damit einhergehenden Generalstreik auf. Wir fordern Menschen mit Migrationserbe, jüdische Menschen, Sinti*ze und Rom*nja, #BIPoC und alle solidarischen Menschen auf, mit uns zu streiken.

Warum der 08. Mai? Das Datum gilt als Tag der Befreiung. Doch während der Krieg und die NS-Diktatur ihr Ende fanden, lebten die Nazi-Ideologie und ihre Vertreter*innen weiter und so haben #Rassismus und #Antisemitismus in Deutschland Tradition. Deutschland wurde nach Ende des zweiten Weltkrieges höchstens symbolisch entnazifiziert. Ehemalige Mitglieder und Funktionäre der NSDAP und der SA hatten hier und in Europa nach 1945 politische Ämter inne oder führten erfolgreiche Unternehmen.

Bereits in den 1950er Jahren kam es zu rassistischen Gewaltakten. 1979 kamen die kubanischen Vetragsarbeiter Raúl García Paret und Delfin Guerra in der DDR beim Widerstand gegen rassistische Gewalt ums Leben. In dieser Zeit wurden Angriffe auf Einwander*innen mangelhaft bis gar nicht dokumentiert und so kennen wir nicht alle Namen von Opfern rassistischer Gewalt. Doch die Liste der Namen der Opfer die wir kennen ist lang und offenbar endlos.

Am Donnerstag den 19. Februar 2020 wurden in #Hanau 9 Menschen von einem Nazi erschossen, fünf weitere wurden verletzt.

Da die Politik dabei zusieht wie unsere Geschwister und Freund*innen, auch unsere antifaschistischten Genoss*innen, bis heute sogar in staatlichen Institutionen ums Leben kommen, können wir uns nicht auf sie verlassen. Sei schützen uns nicht und spätestens seit dem NSU wissen wir, dass in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach Täterschutz betrieben wird.

Wir sind nicht still, wir lassen uns nicht einschüchtern, wir führen keine rassistischen Diskussionen, wir überlassen Nazis nicht die Straßen. Wenn Deutschland weiter mit Nazis schmusen möchte, geschieht das ohne uns!

Angeregt durch die Ramazan Avcı Initiative tragen wir unsere Wut und unsere Trauer am achten Mai auf die Straße. Organisiert euch und ruft mit uns zum Streik auf.

Tag des Zorns, 08. Mai, deutschlandweit.

#bipocstreik #tagdeszorns #migrantifa

—————————

[español]

Queridos amigos, queridos camaradas,

Nosotrxs, las auto-organizaciones de migrantes, convocamos a nuestros hermanos y hermanas* el 8 de mayo de 2020 a un día de ira y a una huelga general. Hacemos un llamamiento a la gente con herencia migratoria, a lxs judíxs, a los BIPoC y a toda la gente solidaria para que se pongan en huelga con nosotrxs.

¿Por qué el 08 de mayo? La fecha se considera el día de la liberación. Pero mientras la guerra y la dictadura nazi llegaban a su fin, la ideología nazi y sus representantes* seguían viviendo, por lo que el racismo y el antisemitismo tienen una larga tradición en Alemania. Después del final de la Segunda Guerra Mundial, Alemania fue desnazificada simbólicamente como mucho. Antiguos miembros y funcionarios del NSDAP y de la SA ocuparon cargos políticos aquí y en Europa después de 1945 o dirigieron negocios exitosos.

Ya en la década de 1950, hubo actos de violencia racista.
En 1979, los trabajadores contratados cubanos Raúl García Paret y Delfin Guerra fueron asesinados en la RDA durante la resistencia a la violencia racista. Durante este tiempo, los ataques a lxs inmigrantes fueron poco o nada documentados, por lo que no conocemos todos los nombres de las víctimas de la violencia racista. Pero la lista de nombres de víctimas que conocemos es larga y aparentemente interminable.

El jueves 19 de febrero de 2020, 9 personas con herencia migratoria fueron asesinadas a tiros por un nazi en Hanau, otras cinco fueron heridas.

Debido a que la política observa cómo nuestrxs hermanxs y amigxs, también nuestrxs camaradas antifascistas, incluso en las instituciones estatales mueren hasta hoy, no podemos confiar en ella. No nos protegen y a más tardar desde la NSU sabemos que en Alemania con toda probabilidad se persigue la protección de lxs perpetradorxs.

No nos callamos, no nos intimidamos, no llevamos a cabo discusiones racistas, no dejamos las calles a lxs nazis. Si Alemania quiere seguir acurrucándose con lxs nazis, ¡será sin nosotrxs!

Inspiradxs por la iniciativa de Ramazan Avcı, llevamos nuestra ira y dolor a las calles el 8 de mayo. Organízate y llama a la huelga con nosotrxs.

Día de la Ira, 08 de mayo, en toda Alemania.
Quelle:
https://www.facebook.com/migrantifa/

Siehe auch den Redebeitrag der Hamburger Ramazan Avci-Initiative auf der Demo in Hanau (Text+Video):
https://www.facebook.com/groups/211618055586474/permalink/2663722047042717/

Kleines 10-Punkte-Programm gegen den rechten Terror

– Rassismus und Antisemitismus sind keine “Ängste und Sorgen”, sondern zum Massenmord drängende Vernichtungsideologien!
– Nehmt die Drohungen der Rechten Ernst!
– Hört auf die Betroffenen und vernetzt Euch mit Ihnen!
– Entwaffnet die Rassist_innen!
– Schließt alle Schützenvereine!
– Zerschlagt die digitalen und analogen Stammtische!
– Vertraut nicht auf die Polizei!
– Organisiert die Selbstverteidigung gegen den rechten Mob!
– Wartet nicht darauf, bis sie zuschlagen – seid schneller!
– Macht den Rassist_innen, Antisemit_innen und Antifeminist_innen wieder Angst!

“Wenn Rassisten angreifen, sorgt dafür dass sie es nie wieder tun!”
(Café Morgenland)

gruppe 8. mai, 21.02.2020
#hanau #nameitfaceit #rechterTerror

Anti, anti, anti – für eine rassismus- und antisemitismuskritische queere Bewegung!

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Anti, anti, anti – für eine rassismus- und antisemitismuskritische queere Bewegung!

Berliner BDS-Anhänger_innen: Hasserfüllte Projektionen
Der Radical Queer March Berlin wurde am 27. Juli 2019 durch eine konzertierte Aktion von Antizionist_innen gestört und sabotiert. Es war erschreckend, mit welcher ideologischen Aggressivität die BDS-Anhänger_innen auf der Demo und im Vorfeld und Nachgang auf diversen Facebook-Seiten unterwegs waren. Parolen wie „Palestine from the river to the sea“, Blut-und-Boden-Rhetorik á la „the blood spilled of my [palestinian] people“ und das durchgängige Schwenken von Palästina-Fahnen wurden begleitet von unsäglichen Kommentaren wie „Israel is a fascist state that commits a slow genocide on palestinian people. The only thing missing are the gas chambers“ [1] oder den omnipräsenten Stereotype von israelischer „Apartheid“, „zionist Lobby“ und israelischen „crimes against humanity“ (übrigens ein Begriff, der für die Taten der Nazi-Deutschen geprägt wurde) [2]. Letztere Zitate stammen von Leil-Zahra Mortada, eine_r der Wortführer_innen des BDS-Blocks. Noch deutlicher im Bereich des sekundären Antisemismus bewegt sich Majed Abusalama von den „Students for Justice in Palestine“, der ebenfalls die Hetze gegen den Radical Queer March befeuerte, und an anderer Stelle von Gaza als israelischem „Konzentrationslager“ faselt [3]. Abusalama störte auch gemeinsam mit Ronnie Barkan eine Veranstaltung mit einer Shoah-Überlebenden an der Humboldt-UNiversität – Barkan, ein weiterer Unterstützer des BDS-Blocks beim Radical Queer March, wiederum schmückt sein Facebook-Profil mit einem persönlichen Gruß des brasilianischen Grafikers Carlos Latuff, der bei einem Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb des iranischen Regimes 2006 den zweiten Platz errang. Zudem wurde im BDS-Block ein PFLP-Solidaritätsplakat getragen – die PFLP hat u.a. 2014 vier Rabbiner und einen Polizisten ermordet [4].

Die internationale BDS-Bewegung: kritikloser Pakt mit antisemitischen Mördern

Die queeren Antizionist_innen bezeichnen BDS – in scharfem Kontrast zum durchgängig als Täter gezeichneten Israel – als friedliche Bewegung der Zivilgesellschaft. Doch nicht nur die Parole „from the river to the sea“ zeigt, dass es dem BDS keineswegs um eine im nationalstaatlichen Rahmen sowieso illusorische ‘friedliche Koexistenz’ geht, sondern um die komplette Zerstörung des einzig jüdischen Staates weltweit5. Bereits bei der Gründung der BDS-Bewegung waren Hamas-nahe Gruppen sowie die PFLP beteiligt, bis heute sind sie im Koordinierungsrat vertreten – mörderische Gruppen, deren tägliche Praxis die Ermordung jüdischer Zivilist_innen und im Fall der Hamas die Artikulation eines offenen Antijudaismus ist [6].
Die vom BDS vorgenommene Stilisierung Israels zu DEM westlichen Frontstaat, DEM Land des Siedlerkolonialismus, ist absurd, weil sie einen Ausschnitt der israelischen Realität – Rassismus [7] und formale militärische Überlegenheit gegenüber den palästinensischen para-staatlichen Strukturen – völlig einseitig überhöht. Alle anderen Aspekte der israelischen Geschichte und Gegenwart – die Shoah und die jahrhundertelange antisemitische Verfolgung in Europa, der antikoloniale Widerstand der israelischen Gründungsphase, die gegen die britischen Kolonialisten erzwungene illegale Einwanderung, die Aufnahme hunderttausender aus den arabischen Staaten vertriebener Jüd_innen, die rechtliche Gleichheit der nichtjüdischen arabischen Israelis etc. – werden ausgeblendet. Nur durch die Ausblendung dieser evidenten Fakten kann das verzerrte Bild des weißen, imperialistischen Israels gezeichnet werden.

Moralische Vehemenz statt Gesellschaftskritik

So artikuliert sich auch in den Reihen der Berliner BDS-Supporter eine Mischung aus einem verqueren, postmodernen Pseudo-Antirassismus und einem antiquierten, längst überwunden geglaubten Oldschool-Antiimperialismus. Traditionell zeichnet der Antiimperialismus ein unterkomplexes, manichäisches Bild des bösen Westens und der guten rebellischen Kolonisierten. Gab es früher immerhin noch eine breite sozialistische Bewegung in manchen Teilen des Trikonts, ist die von den BDS-Supportern artikulierte Fantasie eines „revolutionären Palästinas“ gerade in den heutigen Zeiten, in denen keine rebellische Bewegung der Subalternen auszumachen ist, besonders absurd und ahistorisch. Selbstverständlich werden reaktionäre Strömungen in den postkolonialen Staaten wie der Islamismus und der arabische Nationalismus von BDS gar nicht erst wahrgenommen, geschweige denn kritisiert. Eine ernsthafte Analyse des Zusammenhangs von kapitalistischer Herrschaft, staatlicher Gewalt und (postkolonialer) Ausbeutung ist bei den BDS-Anhänger_innen nicht zu finden. Ebenso ist eine Kritik der Form der Nation, die auch in ihrer befreiungsnationalistischen Variante stets die Herrschaft einer bürgerlichen Elite, Ausbeutung des Proletariats, die Ziehung von Grenzen und das Wuchern nationalistischer Mythen und Aggressionen mit sich bringt, für diese Linken nicht mehr denkbar.Stattdessen wird ohne jegliche positive linke Perspektive einem inhaltsleeren Fetisch „Palästina“ gehuldigt, das „befreit“ werden soll – wovon und wozu, bleibt unklar. Das antiimperalistische Weltbild und der in queeren Kreisen leider zunehmend verbreitete Identitätswahn („Lets celebrate our Identities“) kommen zusammen im positiven Bezug auf ein sogenanntes „unterdrücktes Volk“, das romantisiert wird. Die erneute Zerstörung einer wichtigen queeren und antipatriarchalen Initiative wird besonders drastisch und absurd, wenn sie im Namen von „Palästina“ durchgeführt wird – also einer insbesondere im Gaza-Streifen fast durchgängig homofeindlich strukturierten Gesellschaft, in der queere Menschen im Falle eines Outings mit Zwangsheirat, Folter oder Mord konfrontiert sind [8].

Wie das progagandistische Selbstbild des BDS insgesamt als friedlicher Grassroots-Bewegung, ist auch das Selbstbild der Berliner Demonstrierenden das von friedlichen, durch und durch guten Menschen – stets präsentieren sie sich als Opfer der Anderen, die lediglich aus bösem Willen die Polizei gerufen hätten. Doch ihr ach so edles Auftreten beruht auf einem jede Widersprüche ausblendenden moralischen Rigorismus, einer Wahrnehmung der Welt als strikt gut oder böse, in der man selbst nur die Rolle der Guten spielen kann. Die eigene Aggression, eine Demo mit einem berechtigten queeren Anliegen für ein völlig anderes Programm zu hijacken, zu dominieren und etwa Redebeiträge über Transfeindlichkeit mit Palästina-Parolen zu übertönen, wird ausgeblendet – ein kompletter Realitätsverlust.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass unter den BDS-Anhänger_innen, die den Radical Queer March sabotiert haben, auch einige Israelis und Menschen aus den palästinensischen Gebieten oder umliegender Staaten waren, von denen Manche sicher ihre eigenen Erfahrungen im israelisch-palästinensischen Konflikt gesammelt haben. Bei Menschen, die biographisch in den mit militärischen Mitteln geführten Konflikt involviert sind, kann aus linker Perspektive Verständnis für eine besonders kritische Rezeption der israelischen Regierungspolitik aufgebracht werden [9]. Generell gilt aber, dass es völlig absurd ist, queere Demos in Berlin mit dem Palästina-Thema zu dominieren – als ob es nicht dutzende militärische Konflikte auf der Erde gibt, die häufig deutlich mörderischer verlaufen.

Identitäre Shitstorms
Es ist jedoch keine bloße gedankliche Verirrung oder ein Zufall, dass Teile der linken und queeren Szene in einer solchen ideologischen Sackgasse festgefahren sind. Vielmehr ist die antizionistische Identätspolitik als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise zu deuten, in der Reflektion zunehmend durch Reflexe ersetzt wird. Sinnbild dafür ist die Form des Shitstorms in den sozialen Medien, bei dem sich die Gegenüber jeweils in die eigenen Schützengräben zurückziehen und die Pseudo-Kommunikation nur der Bestätigung des eigenen Rechthabens und der moralischen Überlegenheit dient. Utopien von einem ganz Anderen jenseits der heutigen, trostlosen Gesellschaft werden zunehmends undenkbar – Identität in der eigenen „Community“ wird das Surrogat, damit sich die Menschen nicht völlig wertlos fühlen, sich zuhause und geborgen fühlen können. Wer nichts hat, hat immer noch eine Identität. So ersetzen wie in der gesamten Gesellschaft auch in der Linken Identität (Theodor W. Adorno: „die reine Identität ist der Tod“) und Aktionismus – siehe auch die sich verbreitende Selbstbezeichnung Aktivist_in anstelle etwa von Kommunist_in oder Anarchist_in – zunehmend Analyse, Nachdenken und das Einfordern von (materiellen) Bedürfnissen. In der USA vollzieht sich dieser identitäre Prozess derzeit in der Spaltung zwischen dem nativistisch-völkisch agierenden, weißen rechten Lager und den liberalen, von Trump rassistisch angegriffenen demokratischen Abgeordneten um Ilhan Omar und Alexandria Ocasio-Cortez. Letztere positionieren sich selbst wiederum identitär-antirassistisch und antizionistisch, wenn sie etwa wie Ilhan Omar eine Pro-BDS-Resolution in den US-Kongress einbringen – ähnlich agieren auch Teile der Black Lives Matter-Bewegung mit ihrem Slogan „From Ferguson to Palestine“. So wird auch auf der linken Seite ein falscher, unreflektierter Opfermythos gepflegt, der – so unsere These – offenbar nicht wenige Marginalisierte und rassistisch Ausgegrenzte anzieht. Tatsächliche Herrschafts- und Ohnmachtserfahrungen scheinen sich hier wie im Falle der queeren Berliner BDS-Unterstützer_innen mit teils verständlicher Verbitterung über die deutsche Dominanzgesellschaft, dem Wunsch nach moralischer Überlegenheit und klaren Verhältnissen sowie einer falschen, personalisierten Analyse von Gesellschaft zu vermischen und extrem zu verhärten. Diese Mischung ist offenbar anschlussfähig für den antisemitischen Opfermythos um das schwache, wehrlose und unterdrückte, jedoch moralisch integre „Palästina“. Kein Zufall ist es wohl auch, dass die einzigen linken Organisationen neben „Berlin against Pinkwashing“ und ähnlichen BDS-nahen Strukturen, die den Palästina-Block auf dem Radical Queer March begrüßten, hierarchische K-Gruppen wie die trotzkistischen „Klasse gegen Klasse“, die „SAV – Sozialistische Alternative voran“ oder Menschen aus dem Umfeld des Jugendwiderstandes waren. Diese befremdliche Allianz zwischen queeren Antizionist_innen und homofeindlichen Mackern aus dem Antiimp-Spektrum war in Berlin schon mehrfach auf Demos zu beobachten. Die Mischung aus dauernder Opferrhetorik und aggressivem Auftreten scheint auch unabhängig von ihrem antisemitischen Inhalt autoritäre Charaktere, wie sie in den K-Gruppen, aber offenbar auch in der queeren Szene vertreten sind, anzuziehen.

Utopien anstelle von Schützengräben

Die Ereignisse um den Radical Queer March zeigen: eine materialistische Kritik des mörderischen Antisemitismus, der immer eine Fetischisierung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Herrschaft bedeutet und daher einer der größten Feinde der Emanzipation ist, muss dringend wieder verbreitet werden. Der antizionistische Fetisch des queeren Pseudo-Antirassismus sollte jedoch nicht dazu verleiten, als Gegenreaktion in ebensolchen identitären Bahnen zu agieren. Sowenig eine Position richtig ist, nur weil sie von POC vertreten wird, so wenig sollte das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden und Antirassismus per se ad acta gelegt werden. Gerade in Zeiten einer massiven rassistischen Dynamik in Deutschland mit eskalierendem Nazi-Terror und andauernden Angriffen auf Geflüchtete und Migrant_innen gilt es, anti-identitär gegen alle Herrschaftsstrukturen zu kämpfen. Die Dynamik des zunehmenden gedanken- und diskursfeindlichen Einrichtens in ideologischen Schützengräben, gebildet anhand von identitären Kategorien, muss durchbrochen werden. Im Sinne von Queer als Nicht-Ort, als offene Kategorie gibt es dabei keinen sicheren Ort, auf den wir uns beziehen können, sondern nur eine andauernd neu zu verhandelnde Auseinandersetzung im Handgemenge, in der wir die Utopie einer befreiten Weltgesellschaft jenseits von Geschlecht, Lohnarbeit, Volk, Nation und staatlicher Herrschaft befördern.

gruppe 8. mai [berlin – hamburg – new york]
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Fußnoten:
1: Vgl. https://www.facebook.com/events/2356989967878298
2: Vgl. https://www.leilzahra.com/?p=997.Zur Kritik an der rassistischen Entwendung des Begriffs Apartheid vgl. Africans for Peace: Reclaiming the word Apartheid: „For black South Africans, apartheid was more than just systematic discrimination against our people. It was a project that aimed to rob a specific race of its history, culture, dignity, and humanity. Those who apply the term “apartheid” to the Israeli-Palestinian impasse are guilty of perpetuating that same theft, by denying the unique- ness of the racism and hatred that we faced, and which we have overcome with much blood and tears. While the challenges that face Israel and her neighbor Palestine may result in one group feeling dis- criminated against by the other, it is very different from the legally-blessed racism, based on the discredited idea of white supremacy, that once reigned in my country.“ https://africansforpeace.com/reclaiming-word-apartheid/)
3: „Abusalama setzte […] die Bewohner*innen Gazas mit den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis gleich: „Ich würde weitergehen, als die Formulierung Ghetto, letztendlich sondern sagen [dass] es sich regelrecht um ein Konzentrationslager handelt“ http://antifaelf.blogsport.de/2017/06/29/proteste-gegen-bds-veranstaltung-in-oldenburg/)
4: Vgl. RIAS: „Mindestens eine Person trug ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarity with Khaled Barakat“ mit sich. Barakat ist Funktionär der Terrororganisation „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP). Erst 2014 hatten zwei PFLP Mitglieder in einer Synagoge in Jerusalem vier Rabbiner und einen Polizisten ermordet, ein weiterer Rabbiner starb an den Folgen des Anschlags. Die PFLP bekannte sich zu der Tat und bezeichnete sie als Form des Widerstandes, die verstärkt werden müsse.“ https://www.facebook.com/notes/recherche-und-informationsstelle-antisemitismus-rias/israelfeindschaft-und-antisemitismus-zur-pride-week-2019-in-berlin/2389828441338830/)
5: Eine Position gegen die Zwei-Staaten-Lösung wird auch von BDS-Mitgründer Omar Barghouti immer wieder ganz offen vertreten, vgl. etwa hier: https://electronicintifada.net/content/boycotts-work-interview-omar-barghouti/8263
Barghouti spricht sich übrigens auch offen für „resistance by any means, including armed resistance“ aus: https://spme.org/anti-semitism/omar-barghouti-ucla-echoes-1930s-europe/16720/?fbclid=IwAR1jMxr1fE_Vo8oWk3B1p8tqAkhAqcpAdIkDMeoUgMghv0EySbCpWukqPiU
Warum BDS antisemitsch ist, wurde schon sehr oft belegt – vgl. etwa hier: https://engageonline.wordpress.com/2016/06/01/why-bds-is-antisemitic-david-hirsh/)
6: Vgl. IIBSA: Die antisemitische Boykottkampagne BDS: „Mit dem BDS National Committee (BNC) verfügt die BDS-Kampagne seit 2007 über eine Koordinierungsinstanz. An erster Stelle der Mitglieder des BNC wird der Council of Palestinian National and Islamic Forces gelistet. Das ist ein Zusammenschluss, dem u. a. die Terrorgruppen Hamas, der Palästinensische Islamische Jihad und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) angehören. All diese Organisationen stehen auf der EU-Terrorliste. Auch in Deutschland traten Vertreter der BDS-Kampagne des Öfteren im Umfeld dieser terroristischen Gruppen auf. So zum Beispiel auf Jubiläums-veranstaltungen der Terrororganisation PFLP in Berlin oder auf einer europäischen Konferenz von Hamas-Anhängern in Berlin 2015“ https://iibsa.org/wp-content/uploads/2018/11/Die-antisemitische-Boykottkampagne-BDS-Eine-Handreichung_IIBSA.pdf.pdf)
7: Rassismus verstehen wir nicht als Spezifikum Israels, sondern als Basiskategorie der kapitalistischen Vergesellschaftung.
8: Siehe etwa diesen aktuellen Bericht: https://www.haaretz.com/middle-east-news/palestinians/.premium-pride-and-prejudice-the-hellish-life-of-gaza-s-lgbtq-community-1.7403501
9: Jedoch sollten auch diese für ihren anti-emanzipatorischen Begriffsapparat, der auch wiederum vor antisemitischen Stereotypen nicht halt macht, kritisiert werden, sowie für ihre mangelnde Sensibilität hinsichtlich ihres Sprechortes in einer rassistisch UND antisemitisch strukturierten Gesellschaft wie Deutschland.

Anti, anti, anti – for a queer movement critical of racism and anti-Semitism!

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Anti, anti, anti – for a queer movement critical of racism and anti-Semitism!

Berlin BDS-supporter: Projections filled with hatred
The Radical Queer March Berlin was disrupted and sabotaged by a concerted action of anti-Zionists on 27 July 2019. It was frightening to see the ideological aggressiveness of the BDS supporters on the demo and on various Facebook pages before and after the event. Slogans like “Palestine from the river to the sea”, blood and soil-rhetoric á la “the blood spilled of my [palestinian] people” and the continuous waving of Palestinian flags were accompanied by comments like “Israel is a fascist state that commits a slow genocide on palestinian people. The only thing missing are the gas chambers.”[1] or the omnipresent stereotype of Israeli “apartheid”, “zionist lobby” and Israeli “crimes against humanity” (by the way, a term coined for the deeds of the Nazi Germans)[2]. The latter quotations come from Leil-Zahra Mortada, one of the spokesmen of the BDS block. Even more clearly in the area of secondary antisemism moves Majed Abusalama from the “Students for Justice in Palestine”, who also fired the agitation against the Radical Queer March, and in another place talks about Gaza as an Israeli “concentration camp”[3]. Abusalama, together with Ronnie Barkan, also disturbed an event with a Shoah survivor at Humboldt University – Barkan, another supporter of the BDS block at the Radical Queer March, adorns his Facebook profile with a personal greeting from Brazilian graphic artist Carlos Latuff, who won second place in a Holocaust cartoon competition of the Iranian regime in 2006. In addition, a PFLP solidarity poster was carried in the BDS block – the PFLP for example murdered four rabbis and one policeman in 2014 [4].

The international BDS movement: uncritical pact with anti-Semitic murderers
The queer anti-Zionists describe BDS – in sharp contrast to Israel, which is consistently described as the perpetrator – as a peaceful movement of civil society. Not only the slogan “from the river to the sea” shows that the BDS is by no means concerned with an illusory ‘peaceful coexistence’ within the framework of the nation state, but with the complete destruction of the only Jewish state in the world [5]. Hamas-related groups and the PFLP were already involved in the founding of the BDS movement; they are still represented on the Coordinating Council today – murderous groups whose daily practice is the murder of Jewish civilians and, in the case of Hamas, the articulation of open anti-Judaism [6].
The BDS’s stylization of Israel into THE Western front state, THE land of settler colonialism, is absurd because it exaggerates completely one-sidedly a section of Israeli reality – racism [7] and formal military superiority over Palestinian para-state structures. All other aspects of Israeli history and present – the Shoah and centuries of anti-Semitic persecution in Europe, the anti-colonial resistance of the Israeli founding phase, the illegal immigration forced against the British colonialists, the integration of hundreds of thousands of Jews expelled from the Arab states, the legal equality of the non-Jewish Arab Israelis etc. – are faded out. Only by blanking out these obvious facts can the distorted image of the white, imperialist Israel be drawn.

Moral vehemence instead of social criticism
This is also how the ranks of Berlin BDS supporters articulate a mixture of a peculiar, post-modern pseudo-anti-racism and an antiquated old-school anti-imperialism that was believed to have been overcome long ago. Traditionally, anti-imperialism draws a subcomplex, Manichaean image of the evil West and the good insurgent colonized. Whereas in the past there was still a broad socialist movement in some parts of the Trikont, the fantasy of a “revolutionary Palestine” articulated by the BDS supporters is particularly absurd and ahistorical in today’s times, in which no rebellious movement of subalterns can be identified. Of course, reactionary currents in post-colonial states such as Islamism and Arab nationalism are not even perceived by BDS, let alone criticized. A serious analysis of the connection between capitalist rule, state violence and (post-colonial) exploitation cannot be found among BDS supporters. A critique of the form of the nation, which also in its liberation-nationalist variant always entails the rule of a bourgeois elite, the exploitation of the proletariat, the drawing of borders and the proliferation of nationalist myths and aggressions, is also no longer conceivable for these leftists. Instead, without any positive left perspective, a content-empty fetish “Palestine” is paid homage to, which is to be “liberated” – from what and for what purpose remains unclear. The anti-imperalistic world view and the identity delusion (“Lets celebrate our Identities”), unfortunately increasingly widespread in queer circles, come together in a positive reference to a so-called “oppressed people” who are being romanticized. The renewed destruction of an important queer and antipatriarchal initiative becomes particularly drastic and absurd when it is carried out in the name of “Palestine” – i.e. a society structured almost universally homophobic, especially in the Gaza Strip, in which queer people are confronted with forced marriage, torture or murder in the event of an outing [8].

Like the progagandistic self-image of the BDS as a peaceful grassroots movement, the self-image of the Berlin demonstrators is that of peaceful, thoroughly good people – they always present themselves as victims of the others, who only called the police out of bad faith. But their oh so noble appearance is based on a moral rigorism that ignores all contradictions, a perception of the world as strictly good or bad, in which one can only play the role of the good ones. The own aggression, to hijack a demo with a justified queer request for a completely different program, to dominate it and to drown out speech contributions about transophobia with Palestinian slogans, is faded out – a complete loss of reality.
It should not be concealed that among the BDS supporters who sabotaged the Radical Queer March were some Israelis and people from the Palestinian territories or surrounding states, some of whom have certainly gained their own experience in the Israeli-Palestinian conflict. In the case of people who are biographically involved in the conflict conducted by military means, an understanding of a particularly critical reception of Israeli government policy can be raised from a left perspective [9]. In general, however, it is completely absurd to dominate queer demos in Berlin with the Palestine theme – as if there are not dozens of military conflicts on earth, which often proceed much more murderously.

Identitary Shitstorms
However, it is not merely a mental aberration or a coincidence that parts of the left and queer scene are stuck in such an ideological impasse. Rather, the anti-Zionist identity policy is to be interpreted as an expression of a social crisis in which reflection is increasingly replaced by reflexes. This is symbolized by the form of the shit storm in the social media, in which the counterparts retreat into their own trenches and pseudo-communication serves only to confirm their own rights and moral superiority. Utopias of a completely different world beyond today’s bleak society are becoming increasingly unthinkable – identity in one’s own “community” becomes the surrogate so that people do not feel completely worthless, can feel at home and secure. Those who have nothing still have an identity. Thus, as in the whole of society, in parts of the left scene identity (Theodor W. Adorno: “pure identity is death”) and actionism – see also the spreading self-designation activist instead of communist or anarchist – are increasingly replacing analysis, reflection and the demand for (material) needs. In the USA, this identitary process is currently taking place in the split between the nativist-racial white right and the liberal democratic deputies around Ilhan Omar and Alexandria Ocasio-Cortez, who have been attacked by Trump in a racist manner. The latter, in turn, position themselves identitarian-antiracist and anti-Zionist when, like Ilhan Omar, they introduce a pro-BDS resolution into the US Congress – parts of the Black Lives Matter movement act similarly with their slogan “From Ferguson to Palestine”. Thus also on the left side a false, unreflected victim myth is cultivated, which – so our thesis – obviously attracts quite a few marginalized and racist excluded people. As in the case of the queer Berlin BDS supporters, actual experiences of domination and powerlessness seem to mix here with sometimes understandable bitterness about the German dominant society, the desire for moral superiority and clear conditions, as well as a false, personalized analysis of society, and to harden extremely. This mixture is apparently compatible with the anti-Semitic victim myth surrounding the weak, defenceless and oppressed, but morally integre “Palestine”. It is probably no coincidence that the only leftist organizations – apart from “Berlin against Pinkwashing” and similar structures close to the BDS – that welcomed the Palestine bloc on the Radical Queer March were hierarchical K-groups such as the Trotskyist “Klasse gegen Klasse,” the “SAV – Sozialistische Alternative Voran,” or people from the Jugendwiderstands-sphere. This strange alliance between queer anti-Zionists and homophobic peasants from the antiimp spectrum has already been observed on several demos in Berlin. The mixture of constant victim rhetoric and aggressive appearance also seems to attract authoritarian characters, independent of their anti-Semitic content, as they are represented in the K-groups, but apparently also in the queer scene.

Utopias instead of trenches
The events surrounding the Radical Queer March show that a materialistic critique of murderous anti-Semitism, which is always a fetishization of capitalist society and its rule and therefore one of the greatest enemies of emancipation, urgently needs to be spread again. The anti-Zionist fetish of queer pseudo-antiracism, however, should not tempt to a counter-reaction in the same identitarian paths. As little as a position is correct simply because it is represented by POC, as little should anti-racism per se be put aside. Especially in times of a massive racist dynamic in Germany with escalating Nazi terror and ongoing attacks on refugees and migrants, it is important to fight anti-identitarily against all power structures. The dynamics of the increasing anti-intellectual ideological trenches, formed on the basis of identitary categories, must be broken through. In the sense of queer as a non-place, as an open category, there is no safe place to which we can refer, but only a constantly renegotiable confrontation in the scuffle, in which we promote the utopia of a liberated world society beyond gender, wage labor, people, nation and state rule.

gruppe 8. mai [berlin – hamburg – new york]
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Footnotes:
1: https://www.facebook.com/events/2356989967878298
2: See https://www.leilzahra.com/?p=997. For criticism of the racist theft of the term apartheid see Africans for Peace: Reclaiming the word Apartheid: “For black South Africans, apartheid was more than just systematic discrimination against our people. It was a project that aimed to rob a specific race of its history, culture, dignity, and humanity. Those who apply the term “apartheid” to the Israeli-Palestinian impasse are guilty of perpetuating that same theft, by denying the uniqueness of the racism and hatred that we faced, and which we have overcome with much blood and tears. While the challenges that face Israel and her neighbor Palestine may result in one group feeling discriminated against by the other, it is very different from the legally-blessed racism, based on the discredited idea of white supremacy, that once reigned in my country.” https://africansforpeace.com/reclaiming-word-apartheid/
3: “Abusalama equated […] the inhabitants of Gaza with the victims of the National Socialist extermination practice: “I would go further than the formulation ghetto, but ultimately say [that] it is literally a concentration camp” http://antifaelf.blogsport.de/2017/06/29/protests-against-bds-event-in-oldenburg/
4: See RIAS: “At least one person carried a poster with the inscription “Solidarity with Khaled Barakat”. Barakat is an official of the terrorist organization “People’s Front for the Liberation of Palestine” (PFLP). Only in 2014 two PFLP members had murdered four rabbis and one policeman in a synagogue in Jerusalem, another rabbi died as a result of the attack. The PFLP confessed to the act and described it as a form of resistance that needed to be intensified.“ https://www.facebook.com/notes/recherche-und-informationsstelle-antisemitismus-rias/israelfeindschaft-und-antisemitismus-zur-pride-week-2019-in-berlin/2389828441338830/
5: Omar Barghouti, co-founder of the BDS, also openly advocates a position against the two-state solution time and again, cf. here: https://electronicintifada.net/content/boycotts-work-interview-omar-barghouti/8263
Barghouti is also openly in favour of “resistance by any means, including armed resistance”: https://spme.org/anti-semitism/omar-barghouti-ucla-echoes-1930s-europe/16720/?fbclid=IwAR1jMxr1fE_Vo8oWk3B1p8tqAkhAqcpAdIkDMeoUgMghv0EySbCpWukqPiU
Why BDS is anti-Semitic has been proven very often – see for example here: https://engageonline.wordpress.com/2016/06/01/why-bds-is-antisemitic-david-hirsh/
6: See IIBSA: Die antisemitische Boykottkampagne BDS: “With the BDS National Committee (BNC), the BDS campaign has had a coordinating body since 2007. The Council of Palestinian National and Islamic Forces is listed first among the members of the BNC. This is an association to which the terrorist groups Hamas, the Palestinian Islamic Jihad and the People’s Front belong. All these organisations are on the EU terror list. In Germany, too, representatives of the BDS campaign often appeared in the presence of these terrorist groups. For example at anniversary events of the terrorist organisation PFLP in Berlin or at a European conference of Hamas supporters in Berlin 2015” https://iibsa.org/wp-content/uploads/2018/11/Die-antisemitische-Boykottkampagne-BDS-Eine-Handreichung_IIBSA.pdf.pdf
7: We do not see racism as a specific feature of Israel, but as a basic category of capitalist socialization.
8: See for instance this current report: https://www.haaretz.com/middle-east-news/palestinians/.premium-pride-and-prejudice-the-hellish-life-of-gaza-s-lgbtq-community-1.7403501
9: However, they should also be criticized for their anti-emancipatory conceptual apparatus, which does not stop at anti-Semitic stereotypes, as well as for their lack of sensitivity regarding their place of speaking in a racist AND anti-Semitically structured society such as Germany.

Neuer Text: Für eine linksradikale Israel-Solidarität!

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Leider kam es in den letzten Jahren wieder zu einem Anwachsen der sogenannten Israelkritik in linken Kreisen. Mit dem Text “Für eine linksradikale Israel-Solidarität!” (siehe unten oder klickt auf das obige Bild für ein gelayoutetes PDF) wollen wir daher sowohl eine Kritik des Antizionismus leisten als auch begründen, wieso eine linksradikale Israel-Solidarität notwendig ist. Wir möchten dazu aufrufen, die Diskussion um Antizionismus in Theorie und Praxis wieder engagiert zu führen.

Wir freuen uns über eine Weiterverbreitung des Textes und natürlich über Feedback!

Für eine linksradikale Israel-Solidarität!

„Warum dieser Haß gegen Israel? […] Erträgt der Antisemit es eben doch nicht, einen selbstbewussten, starken Juden vor sich zu haben?“
Sammy Speier

Warum dieser Text.
In den letzten Jahren kam es wieder zu einem Anwachsen der sogenannten Israelkritik in linken Kreisen. Träger des linken Antizionismus sind in Berlin einerseits klassisch antiimperialistische Strukturen wie der stalinistische „Jugendwiderstand“, Teile der Linkspartei, oder auch die leninistische MLPD, die zur Bundestagswahl 2017 eine Liste mit der antisemitischen Terrortruppe PFLP bildet. Andererseits haben sich neue antizionistische Strukturen gebildet, etwa FOR Palestine, Berlin Against Pinkwashing, die Jewish Antifa Berlin und weitere Gruppen wie das Bündnis gegen Rassismus. Zudem hat sich BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) als international agierendes Netzwerk in den letzten Jahren etabliert und unterhält auch einen Ableger in Berlin. Die zuletzt genannten Gruppen agieren großteils unter den Vorzeichen von „Critical Whiteness“ sowie in der queeren Szene. Dieser „Neo-Antizionismus“ kann auch als Ergebnis der UN-Konferenz von Durban 2001 betrachtet werden, die Antizionismus als antirassistisches Paradigma festschrieb. Über einzelne Shitstorms und Facebook-Diskussionen hinaus gab es in der näheren Vergangenheit aber wenig inhaltliche Kritik an den alten und neuen Antizionist_innen. Dabei kann in der Linken in Deutschland auf eine lange Geschichte der Auseinandersetzung um Israel, aus der viel gelernt werden kann, geblickt werden.

Grundsätzlich ist auffällig, dass auch jenseits des antizionistischen Milieus große Teile der linken Szene in Berlin Antisemitismus – in welcher Form auch immer – nicht ernst nehmen oder entsprechende Auseinandersetzungen als „Szenekrieg“ abtun. Die meisten Linken solidarisieren sich weder theoretisch noch praktisch mit Betroffenen von Antisemitismus. Als Indiz sei auf die Abwesenheit der Linken auf der Demo nach dem Angriff auf einen Rabbiner in Friedenau oder der Demo gegen das Beschneidungsverbot 2012 verwiesen, aber auch auf ausbleibende linke Reaktionen etwa nach einem Angriff auf einen jüdischen Transmenschen 2013. Erst vor wenigen Monaten wurde der Fall eines Juden, der aufgrund antisemitischer Angriffe seine Schule (wieder in Friedenau) verlassen musste, medial breit rezipiert – erneut blieben Reaktionen aus der Linken Fehlanzeige. Große Teile der linken Szene in Berlin unterstützen jüdische Kämpfe sowie Kämpfe für die Interessen von Überlebenden der Vernichtung nicht. Z. B. gab es kaum Support für eine 2017 gestartete Petition zur sofortigen Auszahlung von Ghetto-Renten an alle hochbetagten Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik, die letzten Endes gerade einmal von 190 Personen unterzeichnet wurde. Offenbar haben viele Linke in Berlin auch keinen theoretischen Begriff von Antisemitismus. Dieses Problem hängt zum Teil mit dem derzeit angesagten Intersektionalitätsparadigma zusammen, in dessen race-gender-class-Trias Antisemitismus nicht einfach integriert werden kann. Jüd_innen werden so entweder als „weiß“ und „privilegiert“ kategorisiert – oder Antisemitismus wird als Element von Rassismus definiert und damit unsichtbar gemacht, weil die Spezifika des Judenhasses nicht mehr gedacht werden.

Insbesondere die weite Verbreitung von Antizionismus in Deutschland wird aktuell in der Linken kaum reflektiert. Jüd_innen wird die Definitionsmacht über ihre Erfahrungen und über Antisemitismus nicht zugestanden und zum Teil offen abgesprochen, es sei denn sie agieren als Antizionist_innen. Die Präsenz von jüdischen Personen und insbesondere von israelsolidarischen bzw. nicht-antizionistischen Jüd_innen wird damit erschwert bis verunmöglicht. Jüd_innen werden damit aus der linken Szene ähnlich wie aus der Dominanzgesellschaft ausgeschlossen bzw. gesilenced. Mit diesem Text wollen wir daher sowohl eine Kritik des Antizionismus leisten als auch begründen, wieso eine linksradikale Israel-Solidarität notwendig ist.

Warum Israel. (Eine andere Erzählung)
Pläne zur Gründung einer jüdischen Heimstätte im damaligen Palästina gab es schon lange vor 1948. Ziel war es, eine „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ (Theodor Herzl) zu errichten, dadurch den Schutz in eigene Hände zu nehmen und nicht von Dritten abhängig zu sein, um die Sicherheit für dort lebende Jüd_innen zu gewährleisten. Das zionistische Projekt verstand sich als Antwort auf den europäischen Antisemitismus, war jedoch auch durch andere Faktoren geprägt, u.a. den damaligen Kolonialismus. Zugleich war der zionistische Kampf paradoxerweise auch eine anti-koloniale Bewegung, nämlich gegen die britische Kolonialmacht. Großbritannien ging trotz der Balfour-Declaration von 1917 vor allem in den 1930er und 1940er Jahren vehement und mit militärischen Mitteln gegen die Errichtung eines jüdischen Staates vor. Um das von den Brit_innen installierte Grenzregime zu überwinden, organisierte die Jewish Agency eine massive illegale Einwanderung. Auffälligerweise sind diese Illegalisierten kein positiver Bezugspunkt für die antirassistische Linke, die sonst die „Autonomie der Migration“ und das selbstbestimmte Überwinden von Grenzen begrüßt. Großbritannien zögerte damals nicht, rücksichtlos gegen die Geflüchteten vorzugehen, geflohene Jüd_innen in Massenlagern zu internieren oder sogar nach 1945 wieder nach Deutschland und sogar in ehemalige KZs wie Bergen-Belsen zurück zu senden. Zunehmend geriet die britische Kolonialmacht jedoch unter politischen, militärischen (durch zionistische Paramilitärs) und moralischen Druck sowie in einen Zweifrontenkrieg zwischen Zionist_innen und nicht-jüdischen Araber_innen. Schließlich wurde von der UN ein Teilungsplan verabschiedet, der die Gründung eines israelischen Staates einschloß.

Wie komplex auch immer die Entstehungsgeschichte Israels ist, die hier nur in einigen wenigen Schlaglichtern erzählt werden kann, fest steht: ohne die Shoah, den von den Deutschen als Volksgemeinschaft im Zweiten Weltkrieg unternommenem Versuch, alle Jüd_innen weltweit zu vernichten, wäre es nicht zur Gründung des jüdischen Staates gekommen. Die Shoah war der Kulminationspunkt des modernen Antisemitismus und zugleich eine bisher präzedenzlose Vernichtungstat. Die Shoah ist damit nicht nur ein besonders schreckliches Massaker, sondern das schlimmste bisher begangene Verbrechen mit universaler Bedeutung – wurde doch versucht, alle Jüd_innen weltweit, vom Kind bis zum Hochaltrigen, zu ermorden. Die Vernichtung war zuallererst deutsche Wertarbeit, jedoch auch ein europäisches Projekt: konnten sich die Deutschen doch auf die aktive Mitarbeit oder zumindest antisemitisch motivierte Passivität vieler Bürger_innen der kollaborierenden und auch der besetzten Staaten verlassen. Durch ein gezieltes militärisches Eingreifen der Alliierten hätte die Shoah zudem früher gestoppt werden können. Zumindest wäre die Zahl der Opfer reduziert worden, hätten die Alliierten ihre Grenzen für die zahlreichen jüdischen Geflüchteten geöffnet. Doch im Großen und Ganzen gab es keine Hilfe von Außen: „Die juden und jüdinnen mussten schmerzlich erfahren, dass die welt zwar gegen deutschland krieg führte, die befreiung der juden und jüdinnen oder wenigstens die zerstörung der gaskammern und krematorien von auschwitz keine priorität besaßen.“ (sinistra!). Die Grenzen der allermeisten Staaten waren dicht, ähnlich wie heutzutage, wo Geflüchtete von den westlichen Staaten, in die sie wegen deren Glücksversprechen fliehen, abgewiesen werden.

Das Zusammenwirken von deutsch-kapitalistischem Vernichtungswahn und westlich-kapitalistischer Flüchtlingsabwehr schuf eine für die meisten Jüd_innen ausweglose Situation. Die Voraussetzungen, dass sich eine solche Situation heutzutage wiederholt, sind nicht aus der Welt: der Kapitalismus wurde nicht abgeschafft, ja sogar offener Antisemitismus wurde maximal in einigen Ländern der Welt eingedämmt oder mit einem Kommunikationstabu belegt. Es besteht daher die Notwendigkeit einer organisierten Selbstverteidigung aller potenziellen Opfer des Antisemitismus, um eine mögliche Wiederholung der Vernichtung zu verhindern. Während bis zum Zweiten Weltkrieg die zionistische Idee keine Mehrheit unter Jüd_innen finden konnte, änderte sich dies mit dem deutschen Verbrechen. In einer Welt aus Staaten konnte der Zionismus nur in staatlicher Form realisiert werden – mit all den damit leider verbundenen Konsequenzen: herrschaftliche Verfasstheit, Kreation nationaler Mythen, Ausschließung der „Anderen“ durch Grenzziehung, Aufstellung von Polizei und Armee zur bewaffneten Sicherung des Territoriums, „ursprüngliche Akkumulation“ einer Staatsbevölkerung etc. Kurz gesagt, zeichnet sich das 1948 gegründete Israel durch einen Doppelcharakter aus: einerseits gewöhnlicher, herrschaftsförmig organisierter Staat, andererseits Ort der politischen Emanzipation der Jüd_innen und Instrument ihrer bewaffneten Selbstverteidigung.

Wie notwendig eine solche staatliche Formierung ist, wurde Israel unmittelbar aufgezeigt: kaum gegründet, wurde es unmittelbar von sechs arabischen Staaten angegriffen – und konnte nur durch Waffenlieferungen aus sozialistischen Staaten fortbestehen. Neben der Flucht und Vertreibung von nichtjüdischen Araber_innen aus dem nun israelischen Staatsgebiet kam es in der Folge übrigens auch zur Vertreibung mehrerer hunderttausender Jüd_innen aus arabischen und muslimischen Staaten – ein historisch und in der Linken kaum beachteter Fakt. Auch in den letzten Jahren sind wieder viele Jüd_innen nach Israel ausgewandert, weil sie den Antisemitismus in den europäischen Ländern nicht mehr ausgehalten haben – allein aus Frankreich waren es zuletzt jährlich mehrere Tausend.

Warum Antizionismus.
Antizionismus und Israelkritik, allein die Begriffe sind schon bemerkenswert: gibt es doch keine vergleichbare Frankreich-, Schweden-, Ungarn- oder Argentinienkritik. Damit wird deutlich: Israel wird nicht wie alle anderen Staaten wegen bestimmter Handlungen kritisiert, sondern besonders stark fokussiert – und grundsätzlich, in seiner Gesamtheit, abgelehnt. Im Gegensatz zu anderen Staaten, bei denen dann und wann einmal die Regierung kritisiert wird, wird im Falle Israels gleich zum Boykott aufgerufen – ein Boykott, der sich nicht nur gegen die Politik richtet, sondern gegen die komplette israelische Wirtschaft, Kultur und Akademie. So wurde in San Francisco zum Boykott des Besuchs einer LGQBT-Jugendgruppe aufgerufen – einfach nur wegen der israelischen Herkunft der Jugendlichen. Selbstverständlich würde niemand je auf die Idee kommen, eine Gruppe tschechischer Bierbrauer_innen zu boykottieren, weil in Tschechien Romnja massiv diskriminiert werden, oder dazu aufzurufen, eine französische Croissantmarke aufgrund der Vernachlässigung der Pariser Banlieues zu meiden. Hingegen wird die komplette israelische Gesellschaft – vom Siedler hin zum Radiohead-Fan, vom Rechten zum Linken, von der Gläubigen hin zur Atheistin – in Geiselhaft genommen für die angeblichen oder tatsächlichen Untaten ihrer Regierung. Und das mit einer sehr starken politischen Energie, obwohl der israelische Staat an sich mit seinem Gebiet, das ungefähr die Größe Hessens aufweist, und einer Bevölkerung von wenigen Millionen Menschen geopolitisch völlig irrelevant ist, gerade im Vergleich mit riesigen Nationen wie China, Indien, Russland oder Brasilien.

Vordergründig wird im Gegensatz zum alten Antisemitismus Israel meist nicht rassistisch, sondern scheinbar antirassistisch kritisiert. Man bringt die Menschenrechte in Stellung und vergleicht regelmäßig Israel mit Nazideutschland – durch diese moralische Rhetorik ist der Antizionismus in der Lage, breite Gesellschaftsschichten anzusprechen. Dabei schimmern in der antizionistischen Argumentation immer wieder die alten antisemitischen Stereotype auf: Israel wird beispielsweise als „künstlicher“ Staat bezeichnet, der nicht wie andere Nationen „natürlich“ gewachsen sei. Obwohl alle Nationen menschengemacht sind, wird somit die alte Lüge, die Jüd_innen seien kein wirkliches Volk, ihnen hafte etwas Abstraktes und Unnatürliches an, wiederholt. Auch wird Israel vorgeworfen, das Wasser der Palästinenser_innen zu vergiften – im christlichen Antijudaismus hieß es früher, „die Juden“ würden Brunnen vergiften. Selbst das alte Stereotyp der besonderen jüdischen Macht taucht immer wieder auf, wenn etwa suggeriert wird, Israel habe eine besonders starke (jüdische) Lobby in den USA, die insgeheim die nordamerikanische Außenpolitik lenke.

Mit dem ständigen Verweis auf sein moralisches Defizit werden an Israel Doppelstandards angelegt, die für andere Staaten nicht gelten, und Israel wird dämonisiert und delegitimiert. Aus herrschaftskritischer Sicht fällt zudem auf, dass die Unterstellung, es handele sich bei Menschenrechtsverletzungen oder Militarismus um besondere Attribute Israels, die Einsicht in den generell gewaltförmigen Charakter von Staatlichkeit verstellt. So wird Israel gerne ein „schmutziger Krieg“ angelastet – implizit also das Phantasma eines sauberen, gerechten Krieges begründet. Staaten im Kapitalismus dienen jedoch grundsätzlich nicht der Verbesserung der humanitären Situation, sondern dem Zweck, die geeigneten Rahmenbedingungen für die Akkumulation des Kapitals zu setzen – und bedienen sich dazu eines ausgefeilten Sets an Herrschaftstechniken bis hin zum offenen Krieg. Die antizionistische Projektion zieht durch die Unterstellung, Israel agiere besonders verbrecherisch, das gesamte Aggressionspotential der falschen Gesellschaft auf einen Punkt zusammen – die Israelis werden als Alleinschuldige dargestellt. Nicht umsonst wird Israel immer wieder in europäischen Umfragen als angeblich größte Gefahr für den Weltfrieden benannt. Zugleich verunmöglicht der Antizionismus die Einsicht in die destruktive Natur des kapitalistischen Staates, indem sich die Antizionist_innen moralisch den ‚verbrecherischen Israelis’ überlegen fühlen.

Mit dem von der BDS-Bewegung favorisierten Mittel des Boykotts wird sich zudem einer kleinbürgerlichen Taktik bedient. Der Boykott hat nicht die ökonomische Schwächung zum Ziel, sondern die Radikalisierung des Konfliktes und die Isolation Israels. Eine solche Form des Boykotts steht communistischen Taktiken des Arbeitskampfes wie Streik und Sabotage diametral entgegen und ergeht sich in der Illusion, über den ethisch richtigen Konsum bzw. die Konsumvermeidung eine Änderung der Gesellschaft herbeizuführen. Die Produktionssphäre als Ort der Ausbeutung und als grundlegender Herrschaftsbereich im Kapitalismus bleibt jedoch vom Boykott unberührt. Zudem wird im konkreten Fall auch noch gegen die realpolitischen Interessen vieler palästinensischer Arbeiter_innen gehandelt, die – natürlich unter oft schlechten Bedingungen – bei israelischen Firmen angestellt sind. Der Antizionismus inszeniert sich gerne als rebellisch, „kritisch“ und moralisch, stellt jedoch durch sein Abspaltungstheorem – böser jüdischer Staat vs. gute restliche Völkergemeinschaft – eine letzten Endes reaktionäre Versöhnung mit den Herrschaftsformen von Staat und Kapital dar.

Vielen unreflektierte Linke neigen dank seiner menschenrechtlich inspirierten Rhetorik zum Antizionismus. Dabei verkörpert dieser letzten Endes nicht nur das Gegenteil von Herrschaftskritik, sondern auch das Gegenteil von Emanzipation. Bewusst oder unbewusst, verfolgt der Antizionismus das gleiche Ziel wie der alte Antisemitismus, nämlich den Tod der Jüd_innen. Dies spiegelt sich weltweit in erschreckender antisemitischer Gewalt im Namen des Antizionismus wider – nicht nur in palästinensischen suicide bombings, sondern auch in Angriffen auf Synagogen in Europa, hochaggressiven Parolen auf anti-israelischen „Friedensdemonstrationen“ oder in Übergriffen auf israelische Tourist_innen in Berlin.

Warum nicht in Deutschland.

In Deutschland regiert eine Staatsräson, die sich gerne pro-israelisch gibt – begründet mit der „besonderen Verantwortung der Deutschen“ für die Jüd_innen. Darin zeigt sich schon eine paternalistische Haltung – statt von Verantwortung zu schwafeln, sollten die Deutschen einfach ihre Klappe halten und ihr Land auflösen. Doch Deutschland besteht leider weiter, und die Existenz Israels erinnert die Deutschen immer wieder an die Untaten ihrer Vorfahren. Daher gibt es in Deutschland unterhalb der offiziellen Politik, aber auch durch die Staatsräson hindurch einen massiven Hass auf Israel. Vor einigen Jahren etwa schloss sich der Bundestag über alle Parteigrenzen hinweg zu einer einstimmigen Resolution gegen Israel zusammen – ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Der besondere Hass auf Israel wird auch regelmäßig in entsprechenden Umfragen deutlich: Zustimmungsraten von 57% zu Äußerungen wie „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ und 38% zur Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ („Deutsche Zustände“, 2010) verdeutlichen, dass Antizionismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Laut einer anderen Umfrage denken sogar 70% der Deutschen, Israel „verfolgt seine Interessen ohne Rücksicht auf andere Völker“, 59% halten Israel für ein „aggressives Land“, und 58% der Deutschen „ist [Israel] fremd“. Zugleich forderten fast 60% 2015 einen „Schlusstrich unter die Judenverfolgung“. Natürlich haben die allermeisten dieser Deutschen nichts dagegen, wenn Deutschland seine Interessen „ohne Rücksicht auf andere Völker“ verfolgt, etwa im Kosovo-Krieg oder im EU-Türkei-Deal gegen Geflüchtete. Die Gewaltförmigkeit des Staates wird von den Befragten nicht bei Deutschland, sondern nur am jüdischen Staat kritisiert.

In Deutschland kommen also Antizionismus und der sekundäre Antisemitismus – der Hass auf die Jüd_innen wegen Auschwitz – zusammen. Davon kann auch nicht ablenken, dass einige Fraktionen der neuen Rechten sich als pro-israelisch ausgeben, weil sie Israel als Vorkämpfer gegen den Islam sehen. Es ist daher wichtig, dass die Linke Antisemitismus als mörderische Ideologie ernst nimmt und entschieden bekämpft. Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 war die Linke in Deutschland stark anti-israelisch – deutsche Linke haben sich an Selektionen von Israelis/Jüd_innen bei Flugzeugentführungen beteiligt (Entebbe), eine Bombe in ein jüdisches Gemmeindehaus geworfen (Berlin) oder vom „Judenknacks“ (Dieter Kunzelmann) schwadroniert. Dabei wurden die Israelis als “der Feind aller Menschen” (Autonome Nahostgruppe Hamburg 1989) bzw. als die neuen Nazis dargestellt: „Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen” (Schwarze Ratten/Tupamaros Westberlin). Die bis heute bestehende Berliner Autonomen-Zeitschrift „Interim“ brachte den Wunsch vieler Linker 1992 auf die einfache Formel: “Israel muß weg!”. In den letzten Jahren wurde Israel von Linken immer wieder als angeblich besonders rassistischer Staat kolonialer Siedler_innen bezeichnet und mit dem südafrikanischen Apartheidssystem verglichen. Der Kampf gegen Israel wurde als antirassistische Solidarität mit den „Unterdrückten“ aus den palästinensischen Gebieten neu interpretiert, etwa in der Parole „Black Lives Matter – From Ferguson to Palestine“. Auch wenn es selbstverständlich in Israel Rassismus gibt: es ist keineswegs emanzipatorisch, die Opfer der mörderischen Apartheid durch den Vergleich mit dem grundsätzlich demokratisch verfassten Israel zu relativieren6. Ebensowenig ist es sinnvoll, in Deutsch-Europa, das sich durch die mörderische Abschottung seiner Grenzen und durch tobende rassistische Mobs auszeichnet, andauernd auf den Rassismus in einem weit entfernten Landstrich zu verweisen. Insbesondere fällt auf, dass die palästinensischen Geflüchteten nur in ihrem Kampf gegen Israel unterstützt werden – ihr Schicksal in den jordanischen und libanesischen Camps, wo sie zu Hunderttausenden rechtlos und verarmt leben, interessiert die Antizionist_innen nicht.

Mit Links für Israel!
Nach dem antisemitischen Terrorakt vom 11.9.2001 wurde in der Linken in Deutschland eine sehr breite Debatte über Antizionismus geführt. Dabei kam es zum Teil zu gewalttätigen Übergriffen von Antisemit_innen, aber auch zu rassistischen Ausfällen und Abspaltungen von der Linken. Diese Debatte ist 15 Jahre alt, vieles ist in Vergessenheit geraten. Wir möchten dazu aufrufen, die Diskussion um Antizionismus in Theorie und Praxis wieder engagiert zu führen. Die Linke sollte sich dem primären Antisemitismus – etwa körperlichen Angriffen auf Jüd_innen in der Öffentlichkeit – wie dem sekundären Judenhass – zum Beispiel der fortdauernden Verweigerung finanzieller Zahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus und den Rufen nach einem „Schlussstrich“ – entgegenstellen. Darüber hinaus treten wir ein für eine offensive, linksradikale Israel-Solidarität.

Wir suchen dabei kein neues Heimatland in Israel – unsere Solidarität ist nicht-identitär, denn wir sind keine israelischen Bürger_innen oder Fans dieses Landes, sondern leben als Communist_innen in und gegen Deutschland. Zugleich ist unsere Solidarität mit Israel bedingungslos: weder verklären wir das israelische Essen und Nachtleben noch loben wir die lebendige Demokratie oder besondere Toleranz der israelischen Gesellschaft. Auch betreiben wir keine Außenpolitik-Simulation oder wollen als Militärberater_innen bei der IDF anheuern. Ganz nüchtern geht es einzig und allein um diesen Punkt: dass Auschwitz nie wieder sei, und Israel sich, solange es nötig ist, gegen seine antisemitischen Feind_innen verteidigen kann. Dieses Vorhaben versuchen wir, durch den Angriff auf den deutschen Antisemitismus in all seinen Formen zu unterstützen. Die Linke sollte diesen Kampf als selbstverständlichen Teil ihres Kampfes gegen Rassismus, Kapitalismus und für eine bessere Welt, in der man als Individuum „ohne Angst verschieden sein kann“ (Theodor W. Adorno), verstehen.

Am längsten lebe Israel – Deutschland das Existenzrecht entziehen!

gruppe 8. mai [bln – hh – nyc]

New text: „For a radical left-wing solidarity withisrael!“

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In recent years, there has been a further increase in so-called criticism of Israel in left-wing circles. With the text “For a radical left-wing solidarity with israel!” (find the text below or click on the image above for a PDF-document) we want to criticise anti-Zionism and explain why a left-wing Israeli solidarity is necessary. We would like to call for the discussion on anti-Zionism to be resumed in theory and practice. We are looking forward to a further distribution of the text and of course feedback!

For a radical left-wing solidarity with israel!

„Why this hatred of Israel? Doesn’t the anti-Semitic bear to have a self-confident, strong Jew in front of him?“
Sammy Speier

Why this text.
In recent years, there has been a further increase in so-called criticism of Israel in left-wing circles. In Berlin, the supporters of left-wing anti-Zionism are, on the one hand, classical anti-imperialist structures such as the Stalinist „Jugendwiderstand“, parts of the Linkspartei, or the Leninist MLPD, which forms a list with the anti-Semitic terrorist group PFLP for the federal elections in 2017. On the other hand, new anti-Zionist structures have emerged, such as FOR Palestine, Berlin Against Pinkwashing, the Jewish Antifa Berlin and other groups such as the „Bündnis gegen Rassismus“. In addition, BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) has established itself as an international network in recent years and also maintains a group in Berlin. The latter groups operate largely under the sign of „Critical Whiteness“ as well as in the queer scene. This „neo-Antizionism“ can also be seen as a result of the 2001 Durban UN Conference, which established anti-Zionism as an anti-racist paradigm. Beyond individual shitstorms and Facebook discussions, there has been little criticism of the old and new anti-Zionists in the near past. Though in the left in Germany, one can look back on a long history of the dispute over Israel, from which much can be learned.

It is striking that even beyond the anti-Zionist milieu, large parts of the left-wing scene in Berlin do not take anti-Semitism – in whatever form – seriously or dismiss such conflicts as a „war of the scene“. Most of the left-wingers do not show either theoretical or practical solidarity with those affected by anti-Semitism. As an indication you can take a look at the absence of the left on the demonstration after the attack on a rabbi in Friedenau or the demonstration against the ban on circumcision in 2012, but also the lack of leftist reactions after an attack on a Jewish transman in 2013. Only a few months ago, the case of a Jew who had to leave his school (again in Friedenau) due to anti-Semitic attacks was widely received by the media – yet again, reactions from the left were not received at all. Large parts of the left-wing scene in Berlin do not support Jewish struggles or struggles for the interests of survivors of extermination. For example, there was hardly any support for a petition launched in 2017 for the immediate payment of ghetto pensions to the elderly survivors of German extermination policy, a petition which in the end was signed by only 190 people. Apparently, many leftists in Berlin do not have a theoretical concept of anti-Semitism either. This problem is partly related to the current popular paradigm of intersectionality, in whose race-gender-class triad antisemitism cannot be easily integrated. Jews are either categorized as “white” and „privileged“ – or anti-Semitism is defined as an element of racism and thus made invisible because the specifics of hatred against Jews are no longer thought of.

In particular, the widespread spread of anti-Zionism in Germany is currently hardly reflected in the left. Jews are not allowed to use their experiences and anti-Semitism as a basis for the power of definition, and are sometimes frankly denied, unless they act as anti-Zionists. The presence of Jewish persons and especially Israeli and non-anti-Zionist Jews is thus made difficult or even impossible. Jews are thus excluded from the left-wing scene in a similar way to those of the dominance society, or are silenced. With this text, therefore, we want to criticise anti-Zionism and explain why a left-wing Israeli solidarity is necessary.

Why Israel. (A different story)

Plans to establish a Jewish home in Palestine existed long before 1948. The aim was to establish a „publicly secured home in Palestine“ (Theodor Herzl), thereby taking the protection into their own hands and not to be dependent on third parties in order to guarantee security for Jews living there. The Zionist project was seen as a response to European anti-Semitism, but it was also influenced by other factors, including colonialism. At the same time, the Zionist struggle was paradoxically also an anti-colonial movement, against the British colonial power. Despite the Balfour Declaration of 1917, Britain, particularly in the 1930s and 1940s, vigorously and by military means took action against the establishment of a Jewish state. In order to overcome the border regime set up by the British, the Jewish Agency organized massive illegal immigration. It is striking that these illegalized refugees are not a positive point of reference for the anti-racist left, which otherwise welcomes the „autonomy of migration“ and the self-determined overcoming of borders. Great Britain did not hesitate at that time to take reckless action against the refugees, to intern fled Jews in mass camps or even to send them back to Germany after 1945 and even to former concentration camps like Bergen-Belsen. However, the British colonial power increasingly came under political, military (by Zionist paramilitaries) and moral pressure as well as into a two-front war between Zionists and non-Jewish Arabs. Finally, the UN adopted a partition plan which included the establishment of an Israeli state.

No matter how complex the history of Israel’s emergence, which can only be described here in a few highlights, one thing is certain: without the Shoah, the attempt made by the German „Volksgemeinschaft“ to destroy all Jews worldwide, the Jewish state would not have been founded. The Shoah was the culmination of modern anti-Semitism and at the same time an unprecedented act of destruction. The Shoah is thus not only a particularly terrible massacre, but also the worst crime ever committed and has therefor a universal significance – after all, the attempt was made to kill all Jews worldwide, from child to elderly man. The extermination was first and foremost planned and carried out by Germans, but was also a European project: the Germans could rely on the active cooperation or at least anti-Semitic motivated passivity of many citizens of the collaborating and occupied states. The Shoah could also have been stopped earlier by targeted military intervention by the Allies of Wolrd War II. At least the number of victims would have been reduced if the Allies had opened their borders to the numerous Jewish refugees. But on the whole there was no help from outside:“The Jews had to learn painfully that the world was at war with Germany, but that the liberation of the Jews or at least the destruction of the gas chambers and crematoria of Auschwitz did not have any priority“ (sinistra!). The borders of the vast majority of states were closed, similar to the present day, where refugees are rejected by the Western states to which they flee because of their promises of happiness.

The interaction of the German-Capitalist annihilation and the Western capitalist resistance against refugees created a situation that was hopeless for most Jews. The preconditions for such a situation to be repeated nowadays are not off the world: capitalism has not been abolished, and even open anti-Semitism has only been curbed or given a communication taboo in some countries of the world. There is therefore a need for organised self-defence of all potential victims of anti-Semitism in order to prevent a possible repetition of the destruction. While the Zionist idea could not find a majority among Jews until World War II, this changed with the German crime. In a world of states, Zionism could only be realized in state form – with all the consequences that unfortunately entailed: authoritarian constitution, creation of national myths, exclusion of the „others“ by demarcation, establishment of police and army to secure the territory with arms, original accumulation of a state population, etc. In short, Israel, founded in 1948, is characterized by a dual character: on the one hand, a common, repressive-dominant state, on the other hand, a place of political emancipation for the Jews and an instrument of their armed self-defence.

Israel was immediately shown how necessary such a state formation is: hardly founded, Israel was directly attacked by six Arab states – and could only continue to exist through the supply of weapons from socialist states. Besides the flight and expulsion of non-Jewish Arabs from the Israeli territory, several hundred thousand Jews were expelled from Arab and Muslim states – a fact that is widely neglected in the left. In recent years, many Jews have once again emigrated to Israel because they could no longer withstand anti-Semitism in European countries – several thousand of them from France alone have fled to Israel every year.

Why antizionism.
„Anti-Zionism“ and „criticism of Israel“, the terms alone are remarkable: there is no comparable criticism of France, Sweden, Hungary or Argentina. This makes it clear that Israel is not criticised for certain actions like all other states, but is rather particularly strongly focused on and fundamentally rejected in its entirety. In contrast to other states, where the government is criticised once in a while, in the case of Israel boycott is immediately called for – a boycott that is not only directed against politics, but against the entire Israeli economy, culture and academy. In San Francisco, for example, the boycott of the visit of an LGQBT youth group was called for – simply because of the Israeli origin of the young people. Of course, no one would ever have the idea of boycotting a group of Czech brewers because in the Czech Republic Romnja are heavily discriminated against, or to call for a French croissant brand to be avoided because of the neglection of the Paris banlieues. On the other hand, the entire Israeli society – from the settler to the Radiohead-fan, from the right to the left, from the believer to the atheist – is being held hostage for the alleged or actual crimes of their government. And this with a very strong political energy, even though the Israeli state itself, with its territory approximately the size of Hesse and a population of a few million people, is geopolitically completely irrelevant, especially in comparison with huge nations such as China, India, Russia or Brazil.

In contrast to the old anti-Semitism, Israel is usually criticized today not in a racist, but apparently anti-racist manner. Human rights are put in place and Israel is regularly compared with Nazi Germany – this moral rhetoric enables anti-Zionism to address broad social classes. In the anti-Zionist argumentation, the old anti-Semitic stereotypes shine through again and again: Israel, for example, is described as an “artificial” state that has not grown „naturally“ like other nations. Although all nations are man-made, the old lie that Jews are not a real people is repeated, that they have something abstract and unnatural about them. Israel is also accused of poisoning the Palestinian people’s water – Christian anti-Judaism used to say that „the Jews“ would poison wells. Even the old stereotype of the special Jewish power is repeated when, for example, it is suggested that Israel has a particularly strong (Jewish) lobby in the USA, which secretly steers North American foreign policy.

With the constant reference to its moral deficit, Israel is being subjected to double standards which do not apply to other states, and Israel is being demonised and delegitimised. It is also noticeable that the assumption that human rights violations or militarism are special attributes of Israeli rule hinders insight into the generally violent character of statehood. Israel is often accused of a „dirty war“ – implicitly, therefore, the phantasm of a clean, just war is presented. States in capitalism, however, do not improve the humanitarian situation, but serve the purpose of setting the appropriate framework conditions for the accumulation of capital – and use a sophisticated set of techniques of domination up to open warfare. The anti-Zionist projection draws the entire aggression potential of the wrong society into one point through the assumption that Israel is acting particularly criminal – the Israelis are portrayed as the only ones guilty. It is not for nothing that Israel is repeatedly cited in European surveys as the supposed greatest threat to world peace. At the same time, anti-Zionism makes it impossible to understand the destructive nature of the capitalist state, because anti-Zionists feel morally superior to the „criminal Israelis“.

With the means of the boycott the BDS-movement favours the use of a petty-bourgeois tactic. The boycott is not aimed at weakening the economy, but at radicalising the conflict and isolating Israel. Such a form of boycott diametrically opposes communist tactics of class war, such as strike and sabotage. It is the illusion of bringing about a change in society through ethically correct consumption and consumer avoidance. However, the production sphere as the place of exploitation and a fundamental domain of capitalism remains unaffected by the boycott. In addition, in the concrete case, action is also being taken against the realpolitical interests of many Palestinian workers who are employed by Israeli companies – often under poor conditions, of course. Anti-Zionism likes to present itself as rebellious, “critical“ and moral, but through its bipolar distinction – evil Jewish state vs. good international community – it represents a reactionary reconciliation with the forms of state and capital.

Many unreflected leftists tend to anti-Zionism thanks to his rhetoric inspired by human rights. In the end, it embodies not only the opposite of a critique of power, but also the opposite of emancipation. Consciously or unconsciously, anti-Zionism pursues the same goal as old anti-Semitism, namely the death of Jews. As Jean-Paul Sartre said: „What the anti-Semit wants and prepares is the death of the Jew.“ This is reflected worldwide in the appalling anti-Semitic violence in the name of anti-Zionism – not only in Palestinian suicide bombings, but also in attacks on synagogues in Europe, highly aggressive slogans on anti-Israeli „peace demonstrations“ or in assaults on Israeli tourists in Berlin.

Why not in Germany?
In Germany, there is a reason of state, which likes to seem pro-Israeli – justified by the „special responsibility of the Germans“ for the Jews. This already shows a paternalistic attitude – instead of blabbering about responsibility, the Germans should just shut up and dissolve their country. Unfortunately, however, Germany continues to exist and the existence of Israel reminds the Germans of the crimes committed by their ancestors. That is why there is a massive hatred of Israel in Germany, not only under „normal“ Germans, but also in the German elite. A few years ago, for example, the Bundestag joined forces across all party boundaries to form a unanimous resolution against Israel – a very unusual process. The particular hatred of Israel is also regularly reflected in surveys: approval rates of 57% for statements such as „Israel is waging a war of annihilation against the Palestinians“ and 38% for statements such as „In the policies that Israel is pursuing, I can well understand that one has something against Jews“ („Deutsche Zustände“, 2010) make it clear that anti-Zionism is a phenomenon that affects the whole of society. According to another survey, even 70% of Germans think that Israel „pursues its interests without regard for other peoples“, 59% consider Israel to be an „aggressive country“, and 58% of Germans „are alien to Israel“. At the same time, almost 60% of the population demanded 2015 „to finally draw a line under the persecution of the Jews“. Of course, the vast majority of these Germans have no objection to Germany pursuing its interests „without regard for other peoples“, for example in the Kosovo war or in the EU-Turkey deal against refugees. The violent formation of the German state is not criticized by the interviewees, but only the violence of the Jewish state.

In Germany, anti-Zionism and secondary anti-Semitism – hatred of the Jews because of Auschwitz – come together. This is true even if some factions of the new right are pretending to be pro-Israeli because they see Israel as a champion against Islam. It is therefore important that the Left takes anti-Semitism as a murderous ideology seriously and resolutely fights it. Since the Six-Day War in 1967, the left in Germany has been strongly anti-Israeli – German leftists have taken part in selections of Israelis and Jews involved in aircraft hijacking (Entebbe), a bomb thrown into a Jewish community centre (Berlin) or swaggered over the „Judenknacks“ (Dieter Kunzelmann). The Israelis were portrayed as the „enemy of all humans“ (Autonomous Middle East Group Hamburg 1989) or even as the new Nazis: „The Jews driven from fascism have even become fascists who, in collaboration with American capital, want to wipe out the Palestinian people“ (Schwarze Ratten/Tupamaros West Berlin). The Berlin autonomous magazine „Interim“, which still exists today, brought the wish of many leftists to the simple formula: „Israel must go!“. In recent years, Israel has been repeatedly described by the left as a supposedly particularly racist state of colonial settlers and compared with the South African apartheid system. The fight against Israel was reinterpreted as anti-racist solidarity with the „oppressed“ from the Palestinian territories, for example in the slogan „Black Lives Matter – From Ferguson to Palestine“. Though obviously there is racism in Israel, it is by no means emancipatory to relativise the victims of the murderous apartheid by comparing them with Israel, which is fundamentally democratic. Nor does it make sense in German-Europe, which is characterised by the murderous isolation of its borders and by raging racist mobs, to constantly refer to racism in a far-away region. In particular, it is noticeable that the Palestinian refugees are only supported in their fight against Israel – their fate in the Jordanian and Lebanese camps, where hundreds of thousands of them live without rights and impoverished, is of no interest to the anti-Zionists.

Left-wing for Israel!

Following the anti-Semitic terrorist act of 11 September 2001, a very broad debate on anti-Zionism was held in the left in Germany. In some cases, violent attacks by anti-Semitic activists, but also racial breakdowns and splits from the left have occurred. This debate is 15 years old, and many things have been forgotten. We would like to call for the discussion on anti-Zionism to be resumed in theory and practice. The left should oppose primary anti-Semitism – such as physical attacks on Jews in the public arena – such as secondary hatred of Jews – for example, the persistent refusal to pay money to the victims of National Socialism and the cries for a „final stroke“. In addition, we advocate an offensive, radical left-wing solidarity with israel.

We are not looking for a new homeland in Israel – our solidarity is non-identitarian, because we are not Israeli citizens or fans of this country, but live as communists in and against Germany. At the same time, our solidarity with Israel is unconditional: neither do we glorify Israeli food and nightlife, nor do we praise the vibrant democracy or special tolerance of Israeli society. We also do not conduct any foreign policy simulations or want to hire as military advisors at the IDF. It is only about this point: that Auschwitz is never again, and Israel can defend itself against its anti-Semitic enemies for as long as it is necessary. We are trying to support this project by attacking German anti-Semitism in all its forms. The left should understand this struggle as a natural part of its fight against racism, capitalism and for a better world in which one as an individual „can be different without fear“ (Theodor W. Adorno).

Long live Israel – deprive Germany of its right to exist!

gruppe 8. mai [bln – hh – nyc]