Palästina-Solidarität zwischen Repression und Antisemitismus – Eine aktuelle Intervention zur Linken

In den letzten Wochen kam es zu diversen Repressionen gegen die Palästina-Solidarität: der Berliner Palästina-Kongress wurde polizeilich aufgelöst, ebenso das Solidaritäts-Camp vor dem Reichstag. Zudem wurden zwei Mädchenzentren in Berlin geschlossen aufgrund des anti-israelischen Engagements der Zentrums-Leitungen.


Kritik des selektiven Staatshandelns
Neben den selbst Betroffenen und einschlägigen Palästina-Kreisen haben sich auch weitere linke Gruppen gegen dieses Vorgehen geäußert. Insbesondere die Interventionistische Linke (Bundesgruppe, IL Berlin und IL Frankfurt) tat sich mit zahlreichen SocialMedia-Posts und Erklärungen hervor, die alle nach dem selben Muster funktionierten1. Zurecht wurde das Vorgehen als autoritär und auch rassistisch kritisiert. Zurecht, denn der selbe Staat, der hier gegen Palästina-Zusammenhänge vorgeht, legt eine solche Härte nicht an den Tag, wenn es um Antisemitismus von Rechts geht. Wurde schon einmal ein AfD-Parteitag (Auschwitz als „Fliegenschiss“ etc.) dergleichen angegangen? Wurden die Demos von Pegida, Reichsbürger_innen, Querdenker_innen (Reichstags-Stürmung etc.) in vergleichbarer Weise behandelt? Nein, denn hier sollten „Sorgen und Ängste“ des deutschen Michels ernstgenommen werden! Es liegt also ein klarer Doppelstandard vor, was das staatliche Handeln angeht. Nicht zuletzt wird dessen Vorgehen auch von einem rechten Internet-Mob begleitet, der gar nicht genug „Alle nach Gaza abschieben“ in die Tastatur hauen kann.

Auch dass ein CDU-Stadtrat, gefeiert von diversen männlichen CDU-Kollegen, feministische Mädchenarbeit unterbindet, geschieht kaum aus emanzipatorischen Absichten. Die CDU nutzt den Antisemitismus als Vorwand, um Feminismus auszubremsen, tut dies auf dem Rücken der betroffenen Mädchen. Läge der CDU am Wohl der Mädchen, wäre die Kündigung kaum fristlos erfolgt. Auch hat kein CDU-Vertreter gegen das kürzliche Treffen von CDU-Bürgermeister Wegner mit Elon Musk protestiert, der immer wieder mit kruden antisemitischen Positionen (Soros-gesteuerter „großer Austausch“ etc.) auffällt. Zudem kommen die Einsparungen durch die Einstellung der Einrichtungen der CDU in Zeiten des “Knappe Kassen”-Diskurs in Berlin sicher recht. Nicht zuletzt passt dieses Agieren auch gut zum sonstigen autoritären Auftreten der Großen Koaltion gegen die Zivilgesellschaft und die Freien Träger in Berlin. Adorno hat zurecht darauf hingewiesen, dass gegen Antisemiten auch Autorität einzusetzen sei, um sie in ihrem Wahn zu stoppen. Diese Autorität darf jedoch nicht zum blinden Selbstzweck werden. Im Fall der geschlossenen Mädchenzentren wurde die Wahl milderer Mittel von der CDU bewusst ausgeschlagen.

Kritik der selektiven Linken
Sind die Statements der IL daher angemessen? Nein, denn man sollte auch zwei Sachen auf einmal denken können, anstatt komplett einseitig „mit der Wahrheit zu lügen“. Hier daher der Hinweis auf einige blinde Flecken der IL, die bezeichnend sind für den linken Mainstream:

– Analyse des zwiespältigen Regierungshandelns zwischen Philosemitismus und Kooperation mit Antisemiten
Die IL suggeriert mit der Rede von der „Staatsräson“ und der „deutschen Vernunft“, sowohl Regierung als auch Bevölkerung stünden geschlossen hinter Israel. Für die Bevölkerung ist das sowieso falsch. Zu den wenigen einschlägigen Israel-Demos kamen meist nur Hunderte, maximal wenige Tausende, der Rest übte sich zumindest in Ignoranz. Für das Regierungshandeln aber ist es auch falsch: es gibt natürlich die Waffenlieferungen an Israel und eine weitreichende rhetorische Israelsolidarität der Polit-Elite. Es gibt jedoch parallel auch immer wieder Distanzierungen gegenüber der israelischen Regierung (auch schon vor Netanyahu), es gibt Treffen von Baerbock mit Shoah-Relativierer Abbas, es gibt wieder die Unterstützung der offenbar Hamas-durchsetzten UNRWA, und nicht zuletzt ist Deutschland weiterhin größter EU-Handelspartner des Iran. Ohne diesen Iran gäbe es jedoch weder den 7.10. noch Hamas, Hisbollah und Houthis in dieser Form. Deutschland spielt hier also eine klassische Doppelrolle, die näher analysiert werden muss. Eine bloße Darstellung Deutschlands als „Freund Israels“ ist bereits das Resultat selektiver, antisemitisch verzerrter Wahrnehmung einer von „German Guilt“ geleiteten Politik. Anstatt hier genau hinzuschauen, beteiligte sich die IL in Berlin an einer äußerst einseitigen Palästina-Demo mit Transpis „Keine Waffen für Israel“. Wenig verwunderlich, dass dort Leute teilnahmen, die Zionisten für „Satanisten“ halten und selbst eine Zwei-Staaten-Lösung boykottieren

  • Intersektionale Analyse
    Es braucht eine wirkliche intersektionale Analyse der Gemengelage. Wer als PoC von der Polizei drangsaliert wird, kann zeitgleich auch eine widerwärtige Menschenfeindin sein, deren Handeln dringend unterbunden werden muss. Wer aus den palästinensischen Gebieten geflohen ist, hasst die Hamas vielleicht besonders und verzweifelt stark an der westlichen Solidaritätsbewegung – die sich in Berliner Demos explizit mit den Houthis solidarisiert, an US-Unis sogar schon mit der Hisbollah. Umso mehr gilt dies für viele Menschen, die spezifisch vor dem Islamismus geflüchtet sind, und die mitunter die schärften Kritiker*innen von „Palästina Spricht“ und Allies sind. Ebenso kann dies für Leute gelten, die aufgrund ukrainischer/russischer Bezüge sehr kritisch auf die Kooperation von Russland, Iran und Syrien blicken. Eine bloße Gegenüberstellung von weißen Deutschen und PoC/Migrant*innen ist unterkomplex und blendet viele Betroffene aus

  • Nicht-identitärer Solidaritätsbegriff
    Es braucht ein Verständnis von Solidarität jenseits von Paternalismus, Vereinnahmung und Identität. Ferat Kocak etwa gebührt jede Solidarität gegen die Angriffe von Nazis auf ihn und seine Familie, wie auch gegen den kleinbürgerlich-rassistischen Diskurs aus dem AfD-CDU-Milieu. Dazu sollte neben verbaler Solidarität auch der praktische Schutz sowie der Angriff auf die scheiß Nazis zählen. Derselbe Ferat Kocak ist aber scharf zu kritisieren, wenn er an allen möglichen und unmöglichen Stellen (z. B. in der iranischen Exil-Bewegung) seine einseitige Palästina-Rhetorik einsetzt. Zudem gibt es Grenzen der Solidarität: klar stellen sich Linke gegen jede Abschiebung, jede Abschiebungsdrohung und jede rassistische Sonderbehandlung. Aber wieso sollten wir uns darüber hinausgehend für Menschen einsetzen, die selbst gerne am 7.10. teilgenommen hätten, wie es ein Redner des Palästina-Kongress bekundete? Die IL propagiert eine „Solidarität, in der wir über unsere Unterschiede zusammenkommen und in der wir uns gegen Repression behaupten“. Es kann aber keine unkritische Solidarität mit solchen faschistoiden Positionen geben, und auch keine „politische Auseinandersetzung“ (IL) mit Menschen, die Zivilist_innen ermorden wollen. Es ist absurd, dies sagen zu müssen, und es ist absurd, dass die IL dazu kein einziges Wort verliert

  • Solidarität auch für Antisemitismus-Opfer
    Solidarität benötigen nicht allein Opfer staatlicher Repression. Von der IL und aus dem sonstigen „linken Mainstream“ ist nur selten ein Wort der Empathie mit den Betroffenen von Antisemitismus zu vernehmen. Dabei sind viele Jüd*innen (nicht erst) seit dem 7.10. in großer Sorge und auch im Zweifel, ob sie weiterhin sicher in Deutschland leben können. Aktuell wird mit Jörg Rensmann ein Antisemitismusforscher aufgrund von Fake-News eines palästinasolidarischen Internetmobs mit Morddrohungen überzogen, vor einigen Wochen wurde Lahav Shapira brutalst zusammengeschlagen. Wo bleiben hier die engagierten Statements der IL? Was ist das Wohlergehen von Jüd*innen wert?

  • Antisemitismus ernst nehmen/Querfront zerschlagen
    Ein fast schon traditionelles linkes Problem ist es, dass Antisemitismus nicht ernst genommen wird und in der klassischen Triade Sexismus, Rassismus, Klassismus wegignoriert wird. Antisemitismus ist aber eine mörderische Ideologie, der wir Alle ins Auge schauen müssen. In Bezug auf die Palästina-Bewegung bedeutet das, zunächst einmal immer dort zu widersprechen, wo Jüd*innen offensichtlich dämonisiert, delegitimiert oder mit Doppelstandards gemessen werden. Das ist bei „From the river to the sea“ der Fall: Palästinensern wird ein Staat zugestanden, Israel nicht. Das ist bei einer Affirmation des 7.10. der Fall, wie auf dem Palästina-Kongress geschehen. Das ist bei einer Leugnung sexueller Gewalt am 7.10. der Fall, wie von den Leitungen der nun geschlossenen Mädchenzentren getan. Und das ist bei Intifada-Rufen der Fall, wie sie auf dem Palästina-Camp Alltag waren. Es braucht aber einen noch weitergehenden kritischen Blick: wieso sollte es überhaupt solch eine große Palästina-Bewegung geben, wo doch Vergleichbares für andere Kriege nicht in Sicht ist? Hier liegt schon generell ein Doppelstandard zugrunde. Zudem liegt in der Fixierung auf die „nationale Befreiung“ großes reaktionäres Potenzial, das auch praktisch eingelöst wird: auf dem Palästina-Kongress sollten Leute reden, die enge Connections zur rechtsradikalen Hamas haben. Auf dem Camp waren laut Presseberichten Hitler-Verehrer und Märtyrer-Fans dauerpräsent. Auf anderen Demos wurden die homofeindlichen Houthi-Islamisten gefeiert, auf deren Flagge „Verflucht seien die Juden“ steht. Und Mitglieder der „Jüdischen Stimme“ geben russischen und türkischen Staatsmedien Interviews, und posten Statements von rechten Querdenker*innen. Die Querdenker_innen nehmen wiederum immer wieder unwidersprochen an Palästina-Demos teil. Von der Beteiligung Grauer Wölfe ganz zu schweigen.

  • Eine linke Praxis gegen Antisemitismus
    Nicht zuletzt bräuchte es eine glaubwürdige linke Praxis gegen Antisemitismus, die über inhaltliche Kritik hinausgeht. Dazu bräuchte es eine gruppenübergreifende Verständigung und Bündnisse auch mit iranischen, kurdischen und anderen Genoss_innen, die Interesse an einem Vorgehen gegen den befreiungsnationalistischen und autoritären Rollback der Linken haben. Wieviel schöner wäre es gewesen, wenn nicht die Polizei mittels shady Tricks und Knüppeln, sondern 1000e Linke den Palästina-Kongress durch Blockaden verhindert hätten, und zeitgleich einen Kongress zu einer intersektionalen Analyse von Rassismus und Antisemitismus ausgerichtet?

Mario Miller/gruppe 8. mai [ffm/bln/ny]

https://achtermai.blackblogs.org

1 Siehe exemplarisch etwa https://interventionistische-linke.org/beitrag/deutsche-vernunft-darf-niemals-siegen