Palästina-Solidarität zwischen Repression und Antisemitismus – Eine aktuelle Intervention zur Linken

In den letzten Wochen kam es zu diversen Repressionen gegen die Palästina-Solidarität: der Berliner Palästina-Kongress wurde polizeilich aufgelöst, ebenso das Solidaritäts-Camp vor dem Reichstag. Zudem wurden zwei Mädchenzentren in Berlin geschlossen aufgrund des anti-israelischen Engagements der Zentrums-Leitungen.


Kritik des selektiven Staatshandelns
Neben den selbst Betroffenen und einschlägigen Palästina-Kreisen haben sich auch weitere linke Gruppen gegen dieses Vorgehen geäußert. Insbesondere die Interventionistische Linke (Bundesgruppe, IL Berlin und IL Frankfurt) tat sich mit zahlreichen SocialMedia-Posts und Erklärungen hervor, die alle nach dem selben Muster funktionierten1. Zurecht wurde das Vorgehen als autoritär und auch rassistisch kritisiert. Zurecht, denn der selbe Staat, der hier gegen Palästina-Zusammenhänge vorgeht, legt eine solche Härte nicht an den Tag, wenn es um Antisemitismus von Rechts geht. Wurde schon einmal ein AfD-Parteitag (Auschwitz als „Fliegenschiss“ etc.) dergleichen angegangen? Wurden die Demos von Pegida, Reichsbürger_innen, Querdenker_innen (Reichstags-Stürmung etc.) in vergleichbarer Weise behandelt? Nein, denn hier sollten „Sorgen und Ängste“ des deutschen Michels ernstgenommen werden! Es liegt also ein klarer Doppelstandard vor, was das staatliche Handeln angeht. Nicht zuletzt wird dessen Vorgehen auch von einem rechten Internet-Mob begleitet, der gar nicht genug „Alle nach Gaza abschieben“ in die Tastatur hauen kann.

Auch dass ein CDU-Stadtrat, gefeiert von diversen männlichen CDU-Kollegen, feministische Mädchenarbeit unterbindet, geschieht kaum aus emanzipatorischen Absichten. Die CDU nutzt den Antisemitismus als Vorwand, um Feminismus auszubremsen, tut dies auf dem Rücken der betroffenen Mädchen. Läge der CDU am Wohl der Mädchen, wäre die Kündigung kaum fristlos erfolgt. Auch hat kein CDU-Vertreter gegen das kürzliche Treffen von CDU-Bürgermeister Wegner mit Elon Musk protestiert, der immer wieder mit kruden antisemitischen Positionen (Soros-gesteuerter „großer Austausch“ etc.) auffällt. Zudem kommen die Einsparungen durch die Einstellung der Einrichtungen der CDU in Zeiten des “Knappe Kassen”-Diskurs in Berlin sicher recht. Nicht zuletzt passt dieses Agieren auch gut zum sonstigen autoritären Auftreten der Großen Koaltion gegen die Zivilgesellschaft und die Freien Träger in Berlin. Adorno hat zurecht darauf hingewiesen, dass gegen Antisemiten auch Autorität einzusetzen sei, um sie in ihrem Wahn zu stoppen. Diese Autorität darf jedoch nicht zum blinden Selbstzweck werden. Im Fall der geschlossenen Mädchenzentren wurde die Wahl milderer Mittel von der CDU bewusst ausgeschlagen.

Kritik der selektiven Linken
Sind die Statements der IL daher angemessen? Nein, denn man sollte auch zwei Sachen auf einmal denken können, anstatt komplett einseitig „mit der Wahrheit zu lügen“. Hier daher der Hinweis auf einige blinde Flecken der IL, die bezeichnend sind für den linken Mainstream:

– Analyse des zwiespältigen Regierungshandelns zwischen Philosemitismus und Kooperation mit Antisemiten
Die IL suggeriert mit der Rede von der „Staatsräson“ und der „deutschen Vernunft“, sowohl Regierung als auch Bevölkerung stünden geschlossen hinter Israel. Für die Bevölkerung ist das sowieso falsch. Zu den wenigen einschlägigen Israel-Demos kamen meist nur Hunderte, maximal wenige Tausende, der Rest übte sich zumindest in Ignoranz. Für das Regierungshandeln aber ist es auch falsch: es gibt natürlich die Waffenlieferungen an Israel und eine weitreichende rhetorische Israelsolidarität der Polit-Elite. Es gibt jedoch parallel auch immer wieder Distanzierungen gegenüber der israelischen Regierung (auch schon vor Netanyahu), es gibt Treffen von Baerbock mit Shoah-Relativierer Abbas, es gibt wieder die Unterstützung der offenbar Hamas-durchsetzten UNRWA, und nicht zuletzt ist Deutschland weiterhin größter EU-Handelspartner des Iran. Ohne diesen Iran gäbe es jedoch weder den 7.10. noch Hamas, Hisbollah und Houthis in dieser Form. Deutschland spielt hier also eine klassische Doppelrolle, die näher analysiert werden muss. Eine bloße Darstellung Deutschlands als „Freund Israels“ ist bereits das Resultat selektiver, antisemitisch verzerrter Wahrnehmung einer von „German Guilt“ geleiteten Politik. Anstatt hier genau hinzuschauen, beteiligte sich die IL in Berlin an einer äußerst einseitigen Palästina-Demo mit Transpis „Keine Waffen für Israel“. Wenig verwunderlich, dass dort Leute teilnahmen, die Zionisten für „Satanisten“ halten und selbst eine Zwei-Staaten-Lösung boykottieren

  • Intersektionale Analyse
    Es braucht eine wirkliche intersektionale Analyse der Gemengelage. Wer als PoC von der Polizei drangsaliert wird, kann zeitgleich auch eine widerwärtige Menschenfeindin sein, deren Handeln dringend unterbunden werden muss. Wer aus den palästinensischen Gebieten geflohen ist, hasst die Hamas vielleicht besonders und verzweifelt stark an der westlichen Solidaritätsbewegung – die sich in Berliner Demos explizit mit den Houthis solidarisiert, an US-Unis sogar schon mit der Hisbollah. Umso mehr gilt dies für viele Menschen, die spezifisch vor dem Islamismus geflüchtet sind, und die mitunter die schärften Kritiker*innen von „Palästina Spricht“ und Allies sind. Ebenso kann dies für Leute gelten, die aufgrund ukrainischer/russischer Bezüge sehr kritisch auf die Kooperation von Russland, Iran und Syrien blicken. Eine bloße Gegenüberstellung von weißen Deutschen und PoC/Migrant*innen ist unterkomplex und blendet viele Betroffene aus

  • Nicht-identitärer Solidaritätsbegriff
    Es braucht ein Verständnis von Solidarität jenseits von Paternalismus, Vereinnahmung und Identität. Ferat Kocak etwa gebührt jede Solidarität gegen die Angriffe von Nazis auf ihn und seine Familie, wie auch gegen den kleinbürgerlich-rassistischen Diskurs aus dem AfD-CDU-Milieu. Dazu sollte neben verbaler Solidarität auch der praktische Schutz sowie der Angriff auf die scheiß Nazis zählen. Derselbe Ferat Kocak ist aber scharf zu kritisieren, wenn er an allen möglichen und unmöglichen Stellen (z. B. in der iranischen Exil-Bewegung) seine einseitige Palästina-Rhetorik einsetzt. Zudem gibt es Grenzen der Solidarität: klar stellen sich Linke gegen jede Abschiebung, jede Abschiebungsdrohung und jede rassistische Sonderbehandlung. Aber wieso sollten wir uns darüber hinausgehend für Menschen einsetzen, die selbst gerne am 7.10. teilgenommen hätten, wie es ein Redner des Palästina-Kongress bekundete? Die IL propagiert eine „Solidarität, in der wir über unsere Unterschiede zusammenkommen und in der wir uns gegen Repression behaupten“. Es kann aber keine unkritische Solidarität mit solchen faschistoiden Positionen geben, und auch keine „politische Auseinandersetzung“ (IL) mit Menschen, die Zivilist_innen ermorden wollen. Es ist absurd, dies sagen zu müssen, und es ist absurd, dass die IL dazu kein einziges Wort verliert

  • Solidarität auch für Antisemitismus-Opfer
    Solidarität benötigen nicht allein Opfer staatlicher Repression. Von der IL und aus dem sonstigen „linken Mainstream“ ist nur selten ein Wort der Empathie mit den Betroffenen von Antisemitismus zu vernehmen. Dabei sind viele Jüd*innen (nicht erst) seit dem 7.10. in großer Sorge und auch im Zweifel, ob sie weiterhin sicher in Deutschland leben können. Aktuell wird mit Jörg Rensmann ein Antisemitismusforscher aufgrund von Fake-News eines palästinasolidarischen Internetmobs mit Morddrohungen überzogen, vor einigen Wochen wurde Lahav Shapira brutalst zusammengeschlagen. Wo bleiben hier die engagierten Statements der IL? Was ist das Wohlergehen von Jüd*innen wert?

  • Antisemitismus ernst nehmen/Querfront zerschlagen
    Ein fast schon traditionelles linkes Problem ist es, dass Antisemitismus nicht ernst genommen wird und in der klassischen Triade Sexismus, Rassismus, Klassismus wegignoriert wird. Antisemitismus ist aber eine mörderische Ideologie, der wir Alle ins Auge schauen müssen. In Bezug auf die Palästina-Bewegung bedeutet das, zunächst einmal immer dort zu widersprechen, wo Jüd*innen offensichtlich dämonisiert, delegitimiert oder mit Doppelstandards gemessen werden. Das ist bei „From the river to the sea“ der Fall: Palästinensern wird ein Staat zugestanden, Israel nicht. Das ist bei einer Affirmation des 7.10. der Fall, wie auf dem Palästina-Kongress geschehen. Das ist bei einer Leugnung sexueller Gewalt am 7.10. der Fall, wie von den Leitungen der nun geschlossenen Mädchenzentren getan. Und das ist bei Intifada-Rufen der Fall, wie sie auf dem Palästina-Camp Alltag waren. Es braucht aber einen noch weitergehenden kritischen Blick: wieso sollte es überhaupt solch eine große Palästina-Bewegung geben, wo doch Vergleichbares für andere Kriege nicht in Sicht ist? Hier liegt schon generell ein Doppelstandard zugrunde. Zudem liegt in der Fixierung auf die „nationale Befreiung“ großes reaktionäres Potenzial, das auch praktisch eingelöst wird: auf dem Palästina-Kongress sollten Leute reden, die enge Connections zur rechtsradikalen Hamas haben. Auf dem Camp waren laut Presseberichten Hitler-Verehrer und Märtyrer-Fans dauerpräsent. Auf anderen Demos wurden die homofeindlichen Houthi-Islamisten gefeiert, auf deren Flagge „Verflucht seien die Juden“ steht. Und Mitglieder der „Jüdischen Stimme“ geben russischen und türkischen Staatsmedien Interviews, und posten Statements von rechten Querdenker*innen. Die Querdenker_innen nehmen wiederum immer wieder unwidersprochen an Palästina-Demos teil. Von der Beteiligung Grauer Wölfe ganz zu schweigen.

  • Eine linke Praxis gegen Antisemitismus
    Nicht zuletzt bräuchte es eine glaubwürdige linke Praxis gegen Antisemitismus, die über inhaltliche Kritik hinausgeht. Dazu bräuchte es eine gruppenübergreifende Verständigung und Bündnisse auch mit iranischen, kurdischen und anderen Genoss_innen, die Interesse an einem Vorgehen gegen den befreiungsnationalistischen und autoritären Rollback der Linken haben. Wieviel schöner wäre es gewesen, wenn nicht die Polizei mittels shady Tricks und Knüppeln, sondern 1000e Linke den Palästina-Kongress durch Blockaden verhindert hätten, und zeitgleich einen Kongress zu einer intersektionalen Analyse von Rassismus und Antisemitismus ausgerichtet?

Mario Miller/gruppe 8. mai [ffm/bln/ny]

https://achtermai.blackblogs.org

1 Siehe exemplarisch etwa https://interventionistische-linke.org/beitrag/deutsche-vernunft-darf-niemals-siegen

Rede bei der Kundgebung „Gegen Antisemitismus und Islamismus“ 07.01.2024 Berlin

Vielen Dank für die Einladung. Ich wurde gebeten, etwas zur Solidarität mit Israel zu sagen. Voraus schicken will ich, dass ich aus einer nicht-jüdischen, communistischen Perspektive spreche.

Ja: Warum Israel?
Ich glaube, 3 Dimensionen sind wichtig für eine linksradikale Israel-Solidarität:
1: die empathisch-historische Dimension
2: die staatskritische Dimension
3: die nicht-identitäre und bedingungslose Dimension

Kommen wir zuerst zur empathisch-historischen Perspektive. Während bis zum Zweiten Weltkrieg die zionistische Idee keine Mehrheit unter Jüdinnen_Juden finden konnte, änderte sich dies mit dem deutschen Verbrechen. Warum war das so?

Zum Einen gab es einen antisemitischen Vernichtungswahn, der von einer ganzen Volksgemeinschaft getragen wurde. Dieses Vernichtungsprojekt wurde äußerst vehement und mit extrem vielen Ressourcen angegangen. Hätten die Deutschen dieses Vorhaben zu Ende führen können, würden heute weltweit keine Jüdinnen_Juden mehr leben. So betrachtet sind alle heute lebenden Jüdinnen_Juden Shoah-Überlebende.

Zum Anderen wurden die Jüdinnen_Juden auch von der westlich-demokratischen Welt weitgehend allein gelassen. Es gab keine besonders große Bemühungen, gezielt den Vernichtungsbetrieb zu stoppen. Und viele Jüdinnen_Juden scheiterten bei ihren Fluchtversuchen an der z. T. antisemitisch inspirierten Flüchtlingsabwehr der meisten Staaten. Aus meiner Sicht ist es daher wichtig zu versuchen, sich empathisch in diese jüdische Perspektive und Erfahrung einzudenken. Das Leid nachzuvollziehen, das aus Verfolgung, Verstoßung, Vernichtung und Schutzlosigkeit resultierte, und das sich teilweise bis heute tradiert.

Die Voraussetzungen, dass sich eine solche Situation heutzutage wiederholt, sind ja leider nicht aus der Welt: der Kapitalismus wurde bekanntermaßen nicht abgeschafft. Antisemitismus existiert ebenfalls fort, wenn auch in anderen Formen. Es besteht daher die Notwendigkeit einer organisierten jüdischen Selbstverteidigung, um eine Wiederholung des Massenmordes zu verhindern. Israel ist dieses Projekt, was sich gegen den erneuten Versuch einer Auslöschung stellt.

Was bedeutet nun die staatskritische Dimension hinsichtlich der Israel-Solidarität? Das heißt: Israel ist eben auch ein stinknormaler Staat. Und Staaten sind nun einmal Apparate von autoritärer Machtausübung, von Unterwerfung und von Gewalt. In einer Welt aus Staaten konnte der Zionismus logischerweise nur in staatlicher Form realisiert werden – mit all den damit leider auch verbundenen Konsequenzen: herrschaftliche Verfasstheit, nationale Mythen, Ausschluss der „Anderen“ durch Grenzziehung, Aufstellung von Polizei und Armee zur bewaffneten Sicherung des Territoriums etc. So gesehen zeichnet sich Israel durch einen Doppelcharakter aus: einerseits gewöhnlicher, herrschaftsförmig organisierter Staat. Andererseits Ort der politischen Emanzipation der Juden_Jüdinnen und Instrument ihrer bewaffneten Selbstverteidigung.

Kommen wir zur dritten Dimension der Israel-Solidarität: nicht-identitär und bedingungslos. Klingt vielleicht martialisch. Es geht aber nicht um Nibelungentreue und Fahnenappell, im Gegenteil. Nicht-identitär bedeutet hier: Juden_Jüdinnen sind nicht die per se besseren Menschen, die IDF ist keine „coole“ Antifa-Sportgruppe, und Israel ist nicht das neue Heimatland für vaterlandslose Gesellen. Es geht bei einer solchen Solidarität auch nicht um leckeren Hummus oder um das queere Nachtleben in Tel Aviv. Ob Israel nun die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ ist und Minderheiten vorbildlich geschützt werden – oder ob es von einer rechten Regierung geführt wird, und auch dort der liberal-westliche Konsens erodiert: Antisemit_innen interessiert nicht das tatsächliche Verhalten der Juden. Das hat der 7.10. wieder drastisch gezeigt, wo mit den Kibbuzim und dem Supernova-Festival gerade der friedliebende Teil Israels attackiert wurde. Die andauernde Betonung hiesiger Linker, man distanziere sich von der rechten Regierung oder von der Besatzung, ist daher in einem solchen Kontext deplatziert. Es ist so gesehen egal, ob Netanyahu oder sonstwer das Land regiert. Seinen Status als Schutzraum vor Antisemitismus behält der Staat unabhängig von der jeweiligen Regierung. Und ebenjenem Schutzraum sollte linke Solidarität gelten. In diesem Sinne ist unsere Solidarität bedingungslos – sie stellt keine Bedingungen an das Verhalten der Israelis. Und sie erstreckt sich angesichts der mörderischen Drohung des Judenhasses auch auf die Notwendigkeit der militärischen Verteidigung.

Was bedeutet diese Haltung – empathisch und historisch, staatskritisch, nicht-identitär und bedingungslos – nun in der aktuellen Kriegslage? Es ist aus meiner Sicht unsinnig und unlogisch, zu leugnen, dass auch Israel Gewalt ausübt. Die Gewalt des Krieges muss nicht beschönigt werden. Das palästinensische Leid ist natürlich tatsächlich vorhanden. Es ist massiv und furchtbar. Juden_Jüdinnen philosemitisch zu überhöhen, als ob sie keine Verbrechen begehen könnten, ist falsch. Genau das wäre ja auch ein Doppelstandard, eine Idealisierung von Juden_Jüdinnen. Die von der IDF ausgeübte Gewalt darf aber auch nicht dämonisiert werden: es ist ebenso ein Doppelstandard, wenn das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza als Folge einer besonders grausamen israelischen Kriegsführung dargestellt wird. Das Vorgehen der IDF muss immer in Relation zur Gewalt anderer Staaten gesetzt werden. Jeder bürgerliche Staat würde nach einem solch brutalen Massaker, nach einem solchen Angriff auf den Kern seines Selbstverständnis ähnlich vorgehen – oder sogar weit härter als die IDF.

Und die Gewalt der IDF muss immer auf die besondere Situation Israels rückbezogen werden: Israel ist der einzig jüdische Staat weltweit. Israel ist so groß wie Hessen. Israel hat ein Promille der Weltbevölkerung. Israel ist umgeben von mehr oder weniger feindseligen Nachbarstaaten, zudem kritisch beäugt von der Weltöffentlichkeit. Und Israel ist darüber hinaus auch ein Staat, dessen Gründungsprozess und damit verbunden die Ziehung seiner Außengrenzen immer noch nicht abgeschlossen ist. Dieser permanente, zu großen Teilen von außen erzwungene Ausnahmezustand führt eben immer wieder zu Gewalt.

Eine Position der Äquidistanz zwischen Israel und seinen Feind_innen, wie sie etwa die Interventionistische Linke vertritt, macht daher keinen Sinn. Es ist ein weiterer Doppelstandard, dass Israel immer dann, wenn es auf einen Angriff reagiert, massenhaft kritisiert wird und ein Waffenstillstand gefordert wird. Solche Kritik zur Unzeit signalisiert letzten Endes: die Israelis sollten sich brav in ihr Schicksal fügen und sich opfern, wie es traditionell von Juden verlangt wird.

Die Solidarität mit Israel schließt die Kritik am Islamismus ein, wie es ja auch im Titel der heutigen Kundgebung heißt. Neben dem Islamismus sollten wir aber die Ablehnung Israels und die fehlende Empathie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft stärker fokussieren. Der angeblich pro-israelischen Staatsräson steht nämlich sehr wenig tatsächliche Unterstützung für Israel entgegen. Ob im Alltag, auf der Straße, in den Betrieben und Nachbarschaften: spontane Solidarisierung war nach dem 7.10. Mangelware. Es ist genau dieses dröhnende Schweigen und das mehr oder weniger offene Bejahen des Israelhasses, das die links-islamistische Querfront so wirkmächtig macht. Die Palästina-Demonstrierenden sind deutschlandweit gesehen relativ wenige, es sind ja keine Riesendemos. Sie werden bestärkt, weil sie auf „klammheimliche Zustimmung“ Vieler hoffen können. Jenseits polizeilicher Repression erfahren sie sie kaum Widerstand aus der Mitte der Gesellschaft.

Wir müssen uns aber auch gegen eine rechte Pseudo-Solidarität mit Israel stellen, der es nur um eine weitere Gelegenheit für rassistische Hetze geht. Gegen solche reaktionären Trottel sollten wir auf eine kosmopolitisch orientierte Linke setzen, die auch Bündnisse mit iranischen und kurdischen Linken schließt.

Wir sind leider wenige, wir haben kaum gesellschaftlichen Einfluss. Lasst uns trotzdem die Kritik des Antisemitismus und Antizionismus in Deutschland so laut und offensiv wie möglich vortragen. Das ist unser wichtigster Beitrag, um Israel den Rücken freizuhalten. Denn würde Israel untergehen, wäre das nicht nur eine humanitäre Tragödie für Juden_Jüdinnen. Es würde auch bedeuten, dass die Menschheit erneut in der Barbarei versinkt.

Lange Rede, kurzer Sinn:
was wir wollen ist nicht viel – Solidarität mit Israel!

FOR LIFE, AGAINST DEATH! COSMOPOLITAN LEFT INSTEAD OF ANTI-ZIONIST CROSS-FRONT


1. From the unconditional destructiveness of Hamas to the worldwide pogrom mood


On October 7, Hamas, supported by Iran, attacked Israel. The Islamists acted with unimaginable brutality. In addition to soldiers, civilians in particular were sadistically injured, tortured and raped. These included children, the elderly, pregnant women, people with disabilities and ravers at a festival. More than 1,200 people were murdered and more than 240 people were taken hostage and abducted to the Gaza Strip. As a result of the threat and the continued bombardment with countless rockets, 200,000 Israelis became internally displaced persons.

Not since the Shoah have so many Jews been killed in one day. In Israel, the attack is also referred to as the Israeli 9/11. Author Elfriede Jelinek sees the “unconditional destructive rage of a terrorist gang ” [1] at work. Reinhard Schramm, Chairman of the Jewish Community of Thuringia, recognizes a new quality in the attack: “For the first time since the Holocaust, Jews have been murdered – and then in their own state, in such large numbers – simply because they are Jews. This barbaric act was directed against Jewish life, not against the right of the Jewish state of Israel to exist … Babies have been murdered simply because they are Jewish.” [2] Journalist Amir Tibbon (Haaretz) was lucky to survive the massacre himself. Hamas bullets struck right next to him and his one-year-old child for many hours. He states as a consequence for Israel: “First we have to survive. We can’t do that if we are dead.“ [3]

In the aftermath of October 7, there were countless anti-Semitic attacks in many countries, including Germany. Synagogues were attacked with Molotov cocktails, the Jewish hospital in Berlin with stones, and Jewish homes were marked. Many Jews feel great fear. Bini Guttmann from the World Jewish Congress describes this perspective as follows: “For us as Jews from the diaspora, Israel was and is a safe haven. A safe haven from escalating anti-Semitism in our home countries. And it is precisely there that a pogrom has now been committed. This has reopened an old trauma in many Jews. The trauma of being exposed to murder and persecution without protection. … A pogrom atmosphere prevails worldwide…. If there was a Jewish sense of security, it has disappeared“ [4]. Shoah survivors were also retraumatized [5]. Many Jews are hiding their Jewishness even more than before, no longer wear a kippah or Star of David, no longer speak Hebrew in public. “We feel like walking targets”, said Anna Segal from Kahal Adass Yisroel after the arson attack on her community [6].


2 Palestine solidarity between nationalism, ignorance and hatred of Jews

Meanwhile, large crowds repeatedly demonstrate, carrying Palestinian flags. But when does this so-called Palestine solidarity become active? Not in 2019, when the Gaza Youth Movement mobilized young people against Hamas for months until the movement was brutally crushed. Not even when, as recently as August 2023, thousands in Gaza took to the streets against electricity shortages, poverty and the fall of the Hamas regime. Not when Hamas threatens trade unionists or tortures queers. “Palestine Solidarity” is not demonstrating for the opening of the Gaza/Egypt border. Not for the reception of refugees by the surrounding countries, and not when the civilian population is taken hostage by Hamas. And this despite the fact that Hamas is shelling refugees in the south of the Gaza Strip and explicitly states, that the tunnels are only for the terrorists. The “Palestine solidarity” does not even stir when misguided rockets from Hamas or Islamic Jihad kill numerous Palestinians again and again. The only time “Palestine solidarity” demonstrates is when it is against Israel.

In which countries is the so-called Palestine solidarity movement active? The largest demonstrations have been taking place less in the Arab states in recent weeks, but mainly in Europe, for example in London with 300,000 participants. In Berlin, too, tens of thousands have already taken to the streets several times, organized either by left-wing, Palestinian nationalist or Islamist groups. In practice, there is usually a mixture of the different spectrums at the demonstrations, without any effective distancing. The participation of Jewish activists attracts a lot of public attention, but is rather marginal in absolute terms. The intifada is repeatedly celebrated in speeches and on signs. And the Shoah is relativized by talking about a “Holocaust in Gaza” or accusing Israel of genocide. On the fringes of the demonstrations, in attacks on journalists and counter-demonstrators, and of course on social media, slogans about killing Jews, anti-Semitic insults or positive references to Hitler can often be observed. Ultimately, it is this primary hatred of Jews that provides the unconscious or unspoken fuel for Palestine solidarity. Why else do other wars in the region, such as in Yemen, or the current threat of deportation of 1.7 million Afghans from Pakistan, not trigger any perceptible demonstrations? And why else do Palestinian issues that cannot be blamed on Israel not attract any attention?

This is despite the fact that, according to a survey, 70% of people in Gaza do not want to be governed by Hamas [7]. Although Palestinian human rights activists such as Bassem Eid demand: “The Palestinian people of Gaza deserve to be liberated from Hamas. If Israel ends the unjust rule of the terror gang, it will be doing my brothers and sisters in Gaza a great favor. … Palestinians like me and my neighbors want peace; Hamas does not.“ [8] US feminist Seyla Benhabib paints a similar perspective of Palestinian emancipation, aiming first at liberation from Hamas: “October 7, 2023 … must be a turning point for the Palestinian struggle. The Palestinian people must free themselves from the scourge of Hamas. The acts of violence … show that the Islamic jihadist ideology, which revels in the pornography of violence, has taken over the movement. … The Palestinian people must fight against this destructive ideology that is now taking over their movement.“[9]

3 The left between cross-front and death cult

The joint marches by leftists, Palestinian nationalists and Islamists are therefore by no means an emancipatory movement. And “decolonization” promoted by Hamas, which is limited to the murder of babies and peaceful dancers, is not decolonization. On the contrary, such “decolonization” is a deeply violent Islamist land grab.

It’s terrible to see how leftists indulge in pure misanthropy and relativize or even deliberately celebrate the massacre of 7 October. Certainly no leftist would approve of a massacre at the leftist Fusion festival in Germany. However, the humanitarian taboo of indiscriminately murdering civilians no longer applies to some on the left as soon as Jews are involved. These leftists do not improve the lives of Palestinians one iota. Nor do they improve the lives of Palestinian migrants in Germany. For decades, they have been scandalously subjected to work bans and harassment under residence law and kept in poverty [10]. A mass campaign for unconditional naturalization and legal and material equality would certainly help those affected by this racist exclusion more than the symbolic waving of kuffiyahs in left-wing pubs.

The left-wing pact with religious freaks and anti-Jewish nationalists is a betrayal of the idea of a better world. It is another variant of a cross-front between the left and the right, as we have just experienced with the Querdenker movement (Corona-Protests) and around the founding of Sarah Wagenknecht’s party. In view of Hamas’ misogyny and hatred of emancipation, in view of the massacre of Israeli kibbutzniks and peace activists, in view of the mass executions of leftists after the Iranian revolution in 1979, the left’s chumminess with Islamists is also an identification with the aggressor. After all, Hamas would, without batting an eyelid, point their Kalashnikovs at all the Leninists, feminists and anti-racists shouting “from the river to the sea” in Berlin. We see a kind of left-wing death wish here, which we understand as an effect of the numerous crises – pandemic, wars, climate, etc. – of recent years. The ongoing multi-crisis is increasingly making a good life impossible, even in the capitalist metropolises. It makes the end of the world rather than the end of capitalism seem more conceivable. Parallel to the general deterioration in living conditions, the left is also increasingly moving away from the celebration of life, humanity and utopia – in favor of celebrating patriarchal and authoritarian conditions between Stalinism, proximity to Putin and Hamas alliances.

4. For an empathic-materialist left!

We want to oppose such a cult of death. To this end, we would like to see a combination of empathic access to those affected and historical-materialist criticism. In other words, we must not harden ourselves against suffering on an emotional level, we must look at the horror and listen to those affected. Even if the various victim groups are in (warlike) conflict with each other. However, we should not derive any identification from empathy: Jews are not the better people per se, Israel is not “your team” and the IDF is not an antifa sports team

Even looking into the sad eyes of children does not automatically bring insight. Such a basic attitude also means taking historical experiences seriously. Specifically: understanding the Shoah as an unparalleled, unprecedented mass murder that unmistakably reveals the destructive power of anti-Semitism. With all the consequences for German society, and of course for Jews worldwide. But it also means recognizing the interdependence of racism and anti-Semitism. As a rule, racism functions as an ideology of devaluation, of stepping down, and anti-Semitism as a conformist rebellion against “those at the top”, as a delusion of an all-controlling world conspiracy. This symbiosis not only manifested itself in the nationalist war of extermination of National Socialism, but continues to this day. For example, in the conspiratorial whispers of the “Great Exchange”, according to which a global elite would control mass migration.

In relation to Israel, such an empathic-materialistic attitude means taking the experience of the Shoah seriously, that an organized Jewish armament is needed. So that what happened once, namely the mass murder of the defenceless, does not happen again. Israel is this project of self-defense against the renewed attempt of a extermination. And Israel is at the same time a normal state, with all the negative consequences of domination, exploitation and oppression. Whether Israel is the “only democracy in the Middle East”, whether queers have a safe space in Tel Aviv, whether minorities are protected in an exemplary manner – or whether Israel is led by a right-wing government and the liberal-Western consensus is eroding: Anti-Semites are not interested in the actual behavior of Jews. This was drastically demonstrated again on October 7, when the part of Israel that is oriented towards dialog was attacked. The constant emphasis by left-wingers on distancing themselves from the right-wing government or the occupation is therefore misplaced. The state retains its status as a safe haven from anti-Semitism regardless of the government. And it is precisely this protected space that left-wing solidarity should apply to. Without distancing itself in the wrong place.

Adopting a position of equidistance between Israel and its enemies, as advocated by the Interventionist Left (IL), for example, makes just as little sense. It is a clear double standard that Israel is always criticized precisely when it reacts to an attack. Such criticism at the wrong time ultimately signals that Israelis should resign themselves to their fate and sacrifice themselves dutifully, as Jews are expected to do. It is just as double standard when the suffering of the civilian population in Gaza is presented without further contextualization as a consequence of particularly cruel Israeli warfare. The suffering of the civilians is of course real, it is massive and brutal.

However, every state would act similarly as Israel in such a war – or even far more severely. As long as Israel is organized as a state, it will unfortunately commit similar crimes to other comparable states. The seemingly humanistic demand for a ceasefire on “both sides”, which is widespread in the IL spectrum as well as among Christian pacifists, therefore strengthens anti-Israeli resentment because it does not categorize the actions of the IDF materialistically. The warlike violence of the bourgeois state is ultimately perceived as specific to Israel, unconsciously addressing the motif of the cruel or vengeful Jew.

A critique that combines empathy and materialism should also start from a universalist position that understands Islamism not as a cultural or religious phenomenon, but politically: as a right-wing movement for crisis resolution within the framework of capitalism. And as an important faction of a reactionary international that extends from Iran via Yemen and Hamas and Syria to Russia. For this reactionary front, Israel, as the only Jewish state in the world, is a thorn in the flesh. In addition to Islamism, we should also focus on the rejection of Israel and the lack of empathy for the Jewish perspective in the German majority society. The supposedly pro-Israeli reason of state is matched by very little actual support for Israel in everyday life, on the street, in companies and in the media. Especially if we compare this to the so-called welcome culture for refugees in 2015 or the solidarity in Ukraine in the first weeks of the Russian attack, where many Germans spontaneously and “from below” got involved in self-organized grassroots movements. It is the majority silence, looking away and more or less open affirmation of the hatred of Israel by many Germans that makes the left-wing Islamist cross-front so powerful. The relatively few demonstrators across Germany are emboldened and radicalized because they can hope for “secret approval” and hardly experience any social resistance beyond police repression.

Right-wing misanthropes who want to intensify the alleged “clash of civilizations” do nothing to combat anti-Semitism. They point to the “anti-Semitism of others” in order to exonerate themselves – personified in the figure of Aiwanger, who actually had no qualms about externalizing hatred of Jews towards refugees. The right-wingers even reinforce the Israeli threat situation when they call for Islamists to be deported to Israel’s neighboring countries. Instead of pandering to such conservative positions, as some former leftists did in the 00s, we should seek alliances with parts of the Kurdish and Iranian left and with all those who have fled from Islamists. Here is an understanding of why the terror of Hamas as the extended arm of Iran is a threat to any emancipatory aspirations. The very Iran that continues to be an important trading partner of the officially oh-so-Israel-solidary Germany.

In this sense, we would like to see a left that …
… fights domination, but does not glorify every atrocity committed by the supposedly or actually oppressed

… criticizes the state, but does not confuse an Islamist-apocalyptic state of emergency with revolutionary rioting

… strives for liberation, but does not celebrate nationalism as a means of overcoming capitalism

… not only locates anti-Semitism on the right, but also recognizes unreflected anti-Zionism and perfidious hatred of Jews in its own environment

… preserves humanity, even if real existing humans gives little reason to do so

… does not allow itself to be made stupid by the power of others or by its own powerlessness.

Such a cosmopolitan left is urgently needed in the fight against the global rise of fascism.

5 What can we do?

Of course, it is advisable to repeatedly educate people with facts, facts, facts in the daily news business, in the social media and at demonstrations: against inflammatory fake news (“child murderer Israel”) and against the current delegitimization of the Jewish state. In the long term, however, it would be more sustainable to popularize the described, fundamentally supportive attitude towards the dual character of Israeli statehood. And thus also shift the focus away from an ongoing military-strategic discussion about acts of war X or Y in the Middle East – towards a critique of anti-Zionism in Germany. A difficult task. The scattered, intelligent forces on the left have allowed themselves to be pushed far too far onto the defensive in the last decade. Now, however, we again need the well-known criticism in the melee, which can provide enlightenment beyond dogmas.

With this in mind, we would like to call on people to network, to join forces and to go on the offensive. As the relevant forces are currently weak, we should also use guerrilla tactics: be confrontational in order to cause a stir. Use established media for our own purposes. Make small pinpricks that can promote awareness. Be it educational agitation on social media, our own rallies, slogans in public spaces or targeted, critical provocations at the Palestine demos. But also engaging in discussions, providing facts and explaining the background where people are not completely blinded. Solidarity actions for the hostages in the Gaza Strip, rallies in front of synagogues (where desired) and creative attacks on anti-Semites of all stripes are further options for action.

So that one day we can “lie on the water of the Dead Sea and do nothing” with our comrades! Until then, unfortunately, a lot of water will have to flow down the Jordan.

gruppe 8. mai [neukölln]

achtermai.blackblogs.org
gruppe8.mai@systemli.org



Footnotes:
1 https://www.elfriedejelinek.com/israel-hamas/
2 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177365.reinhard-schramm-mache-mir-grosse-sorgen-um-die-sicherheit-des-juedischen-lebens.html
3 https://twitter.com/amirtibon/status/1721764689053467110
4 https://noodnik.at/2023/11/12/wenn-es-ein-judisches-sicherheitsgefuhl-gab-dann-ist-es-nun-verschwunden/
5 https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/amcha-krieg-gegen-israel-fuehrt-zu-neuer-traumatisierung/
6 https://taz.de/Versuchter-Anschlag-auf-Synagoge/!5963814/
7 https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/polls-show-majority-gazans-were-against-breaking-ceasefire-hamas-and-hezbollah
8 https://www.newsweek.com/im-palestinian-west-bank-hamas-alone-responsible-any-bloodshed-gaza-opinion-1835360
9 https://medium.com/amor-mundi/an-open-letter-to-my-friends-who-signed-philosophy-for-palestine-0440ebd665d8
10 https://taz.de/Debatte-um-Berliner-Sonnenallee/!5965454/

Für das Leben, gegen den Tod! Kosmopolitische Linke statt antizionistische Querfront

1. Von der bedingungslosen Zerstörungswut der Hamas zur weltweiten Pogromstimmung

Am 7. Oktober griff die Hamas, unterstützt durch den Iran, Israel an. Die Islamist_innen gingen mit unvorstellbarer Brutalität vor. Neben Soldat_innen wurden v.a. Zivilist_innen auf sadistische Weise verletzt, gefoltert und vergewaltigt. Darunter befanden sich Kinder, Ältere, Schwangere, Menschen mit Behinderungen, Raver_innen auf einem Festival. Mehr als 1.4000 Menschen wurden ermordet, zudem mehr als 240 Menschen als Geiseln genommen und in den Gaza-Streifen verschleppt. Infolge der Bedrohungslage und dem weiter anhaltenden Beschuss mit zahllosen Raketen wurden 200.000 Israelis zu Binnenflüchtlingen.

Seit der Shoah wurden nicht mehr so viele Jüd_innen an einem Tag umgebracht. In Israel wird der Angriff auch als israelisches 9/11 bezeichnet. Die Autorin Elfriede Jelinek sieht die „bedingungslose Zerstörungswut einer Terrorbande“1 am Werk. Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, erkennt eine neue Qualität in dem Angriff: „Erstmalig seit dem Holocaust sind Juden – und dann auch noch in ihrem eigenen Staat, in einer so großen Zahl – ermordet worden, einfach nur, weil sie Juden sind. Diese barbarische Tat hat sich gegen jüdisches Leben gerichtet, nicht gegen das Existenzrecht des jüdischen Staates Israel … Es sind Babys ermordet worden, einfach nur, weil sie als jüdische Babys geboren wurden.“2 Der Journalist Amir Tibbon (Haaretz) überlebte selbst mit viel Glück das Massaker. Kugeln der Hamas schlugen über lange Stunden unmittelbar neben ihm und seinem einjährigen Kind ein. Er benennt als Konsequenz für Israel: „Zuerst müssen wir überleben. Das können wir nicht, wenn wir tot sind.“3

In der Folge des 7.10. kam es zu zahllosen antisemitischen Angriffen in vielen Ländern, so auch in Deutschland. Synagogen wurden mit Molotow-Cocktails angegriffen, das Jüdische Krankenhaus Berlin mit Steinen, Wohnungen von Juden wurden markiert. Viele Jüd_innen empfinden große Angst. Bini Guttmann vom Jüdischen Weltkongress beschreibt diese Perspektive so: „Für uns als Juden:Jüdinnen aus der Diaspora war und ist Israel ein Schutzraum. Ein sicherer Hafen vor eskalierendem Antisemitismus in unseren Heimatländern. Und genau dort ist nun ein Pogrom verübt worden. Das hat in vielen Juden:Jüdinnen ein altes Trauma neu aufgerissen. Das Trauma, Mord und Verfolgung ungeschützt ausgesetzt zu sein. … Weltweit herrscht Pogromstimmung.… Wenn es ein jüdisches Sicherheitsgefühl gab, dann ist es verschwunden4. Auch Shoah-Überlebende wurden retraumatisiert5. Viele Jüd_innen verstecken noch mehr als vorher ihr Judentum, tragen keine Kippa oder Davidsterne, sprechen kein Hebräisch mehr in der Öffentlichkeit. „Wir fühlen uns als wandelnde Zielscheiben“, formulierte Anna Segal von Kahal Adass Jisroel nach dem Brandanschlag auf ihre Gemeinde6.

2. Palästina-Solidarität zwischen Nationalismus, Ignoranz und Judenhass

Unterdessen demonstrieren wiederholt große Massen, ausgerüstet mit palästinensischen Flaggen. Doch wann wird diese sogenannten Palästina-Solidarität aktiv? Nicht etwa 2019, als das Gaza Youth Movement monatelang Jugendliche gegen die Hamas mobilisierte, bis diese Bewegung brutal niedergeschlagen wurde. Auch nicht etwa wenn, wie erst im August 2023, Tausende in Gaza gegen Stromknappheit, Armut und den Sturz des Hamas-Regimes auf die Straße gehen. Nicht wenn die Hamas Gewerkschafter_innen bedroht oder Queers foltert. Nicht für die Öffnung der Grenze Gaza/Ägypten demonstriert die „Palästina-Solidarität“. Nicht für die Aufnahme der Geflüchteten durch die umliegenden Länder, und nicht wenn die Zivilbevölkerung durch die Hamas in Geiselhaft genommen wird. Und das obwohl die Hamas Flüchtende in den Süden des Gaza-Streifens beschießt und explizit klarstellt: die Tunnel sind nur für die Terrorist_innen. Die „Palästina-Solidarität“ regt sich auch nicht, wenn fehlgeleitete Raketen der Hamas oder des Islamischen Jihad wieder und wieder zahlreiche Palästinenser_innen töten. Die „Palästina-Solidarität“ demonstriert einzig und allein dann, wenn es gegen Israel geht.

In welchen Ländern wird nun die sogenannte Palästina-Solidaritätsbewegung aktiv? Die größten Demos für Palästina finden in den letzten Wochen weniger in den arabischen Staaten statt, sondern vor Allem in Europa, etwa in London mit 300.000 Teilnehmenden. Auch in Berlin gingen bereits mehrfach Zehntausende auf die Straße, organisiert entweder von Linken, palästina-nationalistischen oder islamistischen Gruppen. In der Praxis findet auf den Demos meist eine Vermengung der verschiedenen Spektren statt, ohne jede wirksame Distanzierung. Öffentlich viel beachtet, in absoluten Zahlen eher marginal ist die Beteiligung jüdischer Aktivist_innen. In Reden und auf Schildern wird immer wieder die Intifada gefeiert. Und die Shoah relativiert, indem von einem „Holocaust in Gaza“ die Rede ist oder Israel eines Genozids angeklagt wird. Am Rande der Demos, in Angriffen auf Journalist_innen und Gegendemonstrant_innen, und natürlich auf SocialMedia, sind nicht selten auch Parolen über das Töten von Jüd_innen, antisemitische Beschimpfungen oder positive Bezüge auf Hitler zu beobachten. Dieser primäre Judenhass ist es letzten Endes auch, der den unbewussten bzw. unausgesprochenen Treibstoff für die Palästina-Solidarität liefert. Warum sonst lösen andere Kriege in der Region, wie etwa im Jemen, oder auch die aktuell drohende Abschiebung von 1,7 Millionen Afghan_innen aus Pakistan, keine wahrnehmbaren Demos aus? Und warum sonst locken palästinensische Anliegen, bei denen nicht Israel beschuldigt werden kann, keinen Hund hinter dem Ofen hervor?

Und das, obwohl laut einer Umfrage 70% der Menschen in Gaza nicht von der Hamas regiert werden wollen7. Obwohl palästinensische Menschenrechtsaktivist_innen wie Bassem Eid fordern: „Das palästinensische Volk von Gaza verdient die Befreiung von der Hamas. Wenn Israel die ungerechte Herrschaft der Terrorbande beendet, wird es meinen Brüdern und Schwestern in Gaza einen großen Gefallen tun. … Palästinenser wie ich und meine Nachbarn wollen Frieden; die Hamas will ihn nicht.“8 Eine ähnliche Perspektive von einer palästinensischen Emanzipation, die zuerst auf die Befreiung von der Hamas abzielt, zeichnet die US-Feministin Seyla Benhabib: „Der 7. Oktober 2023 … muss ein Wendepunkt für den palästinensischen Kampf sein. Das palästinensische Volk muss sich von der Geißel der Hamas befreien. Die Gewalttaten … zeigen, dass die islamische Dschihad-Ideologie, die in der Pornographie der Gewalt schwelgt, die Bewegung übernommen hat. … Das palästinensische Volk muss gegen diese zerstörerische Ideologie ankämpfen, die nun seine Bewegung übernimmt.“9

3. Linke zwischen Querfront und Todessehnsucht

Die gemeinsamen Aufmärsche von Linken, Palästina-Nationalist_innen und Islamist_innen sind also keinesfalls eine emanzipatorische Bewegung. Und eine von der Hamas vorangetriebene „Dekolonialisierung“, die sich im Morden von Babies und friedlichen Tanzenden erschöpft, ist keine Dekolonialisierung. Eine solche „Dekolonialisierung“ ist im Gegenteil eine zutiefst gewaltförmige islamistische Landnahme. Es ist furchtbar mit anzusehen, wie sich Linke in purem Menschenhass ergehen und das Massaker vom 7.10. relativieren oder sogar bewusst abfeiern. Sicher würde kein_e Linke ein Massaker auf dem Fusion-Festival bejahen. Das humanitäre Tabu, wahllos Zivilist_innen zu ermorden, greift jedoch für einen Teil der Linken nicht mehr, sobald es sich um Juden handelt.

Diese Linken verbessern das Leben der Palästinenser_innen um keinen Deut. Im Übrigen auch nicht das Leben der palästinensischen Migrant_innen in Deutschland. Jene werden skandalöserweise seit Jahrzehnten mit Arbeitsverboten und aufenthaltsrechtlichen Schikanen belegt und in Armut gehalten10. Eine massenhafte Kampagne für eine bedingungslose Einbürgerung, rechtliche und materielle Gleichstellung würde den Betroffenen dieser rassistischen Ausgrenzung sicher mehr helfen als das symbolische Schwenken von Kuffiyahs in linken Kneipen.

Der linke Pakt mit religiösen Freaks und judenfeindlichen Nationalist_innen ist ein Verrat an der Idee einer besseren Welt. Er ist eine weitere Variante einer Querfront von Linken und Rechten, wie wir sie gerade erst mit der Querdenker-Bewegung und rund um Sarah Wagenknechts Parteigründung erlebt haben. Angesichts der Misogynie und des Hasses der Hamas auf Emanzipation, angesichts der massakrierten israelische Kibbutzniks und Friedensbewegten, angesichts der Massenhinrichtungen von Linken nach der iranischen Revolution 1979 ist die linke Kumpanei mit Islamist_innen auch eine Identifikation mit dem Aggressor. Schließlich würde die Hamas, ohne mit der Wimper zu zuckern, ihre Kalashnikows auf all die Leninist_innen, Feminist_innen und Antirassist_innen richten, die in Berlin „from the river to the sea“ grölen. Wir sehen hier eine Art von linker Todessehnsucht, die wir als Effekt der zahlreichen Krisen – Pandemie, Kriege, Klima etc. – der letzten Jahre verstehen. Die anhaltende Multi-Krise verunmöglicht zunehmend auch in den kapitalistischen Metropolen ein gutes Leben. Sie lässt eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellbar erscheinen. Parallel zur allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen rücken auch Linke immer mehr von der Feier des Lebens, von Humanität und Utopie ab – zugunsten des Feierns patriarchaler und autoritärer Zustände zwischen Stalinismus, Putin-Nähe und Hamas-Allianzen.

4. Für eine empathisch-materialistische Linke!

Wir wollen uns gegen solchen Todeskult stellen. Dazu wünschen wir uns eine Verknüpfung von empathischem Zugang zu Betroffenen sowie historisch-materialistischer Kritik. Soll heißen: wir dürfen uns auf einer emotionalen Ebene nicht abhärten gegen das Leiden, müssen den Blick auf das Grauen richten und den Betroffenen zuhören. Auch wenn die verschiedenen Opfergruppen sich im (kriegerischen) Widerspruch gegenüberstehen. Aus der Empathie sollten wir jedoch keine Identifizierung ableiten: Juden sind nicht die per se besseren Menschen, Israel ist nicht „dein Team“ und die IDF keine Antifa-Sportgruppe! Auch der Blick in traurige Kinderaugen bringt nicht automatisch Erkenntnis. Eine solche Grundhaltung bedeutet auch, historische Erfahrungen ernst zu nehmen. Konkret: die Shoah als den bisher unvergleichlichen, nie dagewesenen Massenmord verstehen, der die Vernichtungskraft des Antisemitismus unmissverständlich offenlegt. Mit all den Folgen für die deutsche Gesellschaft, und natürlich für Jüd_innen weltweit. Heißt aber auch: Rassismus und Antisemitismus in ihrer gegenseitigen Verwobenheit erkennen. Rassismus funktioniert dabei in der Regel als Ideologie der Abwertung, des Nach-Unten-Tretens, und Antisemitismus als konformistische Rebellion gegen „die da Oben“, als Wahn von einer alles kontrollierenden Weltverschwörung. Diese Symbiose zeigte sich nicht nur im völkischen Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus, sondern dauert bis heute fort. Etwa in dem verschwörerischen Raunen vom „Großen Austausch“, wonach eine globale Elite eine Massenmigration steuern würde.

In Bezug auf Israel bedeutet eine solche empathisch-materialistische Grundhaltung: die Erfahrung der Shoah ernst nehmen, dass es einer organisierten jüdischen Bewaffnung bedarf. Damit das, was einmal geschehen ist, nämlich der volksgemeinschaftliche Massenmord an Schutzlosen, nicht wieder geschieht. Israel ist dieses Projekt der Selbstverteidigung gegen den Versuch einer erneuten Auslöschung. Und Israel ist eben zugleich ein stinknormaler Staat, mit all den negativen Folgen von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung. Ob Israel die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ ist, ob Queers in Tel Aviv einen SaferSpace haben, ob Minderheiten vorbildlich geschützt werden – oder ob Israel von einer rechten Regierung geführt wird, und der liberal-westliche Konsens erodiert: Antisemit_innen interessiert nicht das tatsächliche Verhalten der Juden. Das hat der 7.10. wieder drastisch gezeigt, wo gerade der auf Dialog orientierte Teil Israels attackiert wurde. Die andauernde Betonung hiesiger Linker, man distanziere sich von der rechten Regierung oder von der Besatzung, ist daher deplatziert. Seinen Status als Schutzraum vor Antisemitismus behält der Staat nämlich unabhängig von der Regierung. Und ebenjenem Schutzraum sollte linke Solidarität gelten. Ganz ohne Distanzierung an der falschen Stelle.

Eine Position der Äquidistanz einzunehmen zwischen Israel und seinen Feind_innen, wie sie etwa von der Interventionistischen Linken (IL) vertreten wird, macht ebensowenig Sinn. Es ist ein klarer Doppelstandard, dass Israel immer genau dann, wenn es auf einen Angriff reagiert, kritisiert wird. Solche Kritik zur Unzeit signalisiert letzten Endes: die Israelis sollten sich in ihr Schicksal fügen und sich brav opfern, wie es eben von Juden verlangt wird. Ebenso Doppelstandard ist es, wenn das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza ohne weitere Kontextualisierung als eine Folge besonders grausamer israelischer Kriegsführung dargestellt wird. Das Leid der Zivilist_innen ist natürlich tatsächlich vorhanden, es ist massiv und furchtbar. Jedoch würde jeder Staat in einem solchen Krieg ähnlich vorgehen – oder sogar weit härter. Solange Israel staatlich organisiert ist, wird es leider auch ähnliche Verbrechen begehen wie andere vergleichbare Staaten. Die im IL-Spektrum wie unter christlichen Pazifist_innen verbreitete, scheinbar humanistische Forderung nach einem Waffenstillstand „beider Seiten“ stärkt daher ein anti-israelisches Ressentiment, weil sie das Agieren der IDF nicht materialistisch einordnet. Die kriegerische Gewalt des bürgerlichen Staates wird letzten Endes als israelisches Spezifikum wahrgenommen, unbewusst wird damit auch das Motiv des grausamen oder rachsüchtigen Juden angesprochen.

Eine Kritik, die Empathie und Materialismus verbindet, sollte auch von einer universalistischen Position ausgehen, die Islamismus nicht als kulturelles oder religiöses Phänomen begreift, sondern politisch: als rechte Bewegung zur Krisenlösung im Rahmen des Kapitalismus. Und als wichtige Fraktion einer reaktionären Internationalen, die von Iran über Jemen und Hamas und Syrien bis Russland reicht. Für diese reaktionäre Front ist Israel als der einzig jüdische Staat weltweit ein Stachel im Fleisch. Neben dem Islamismus sollten wir auch die Ablehnung Israels und die fehlende Empathie für das jüdische Projekt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft in den Fokus rücken. Der angeblich pro-israelischen Staatsräson steht nämlich sehr wenig tatsächliche Unterstützung für Israel im Alltag, auf der Straße, in den Betrieben und Nachbarschaften, entgegen. Gerade wenn wir die Willkommenskultur 2015 oder die Ukraine-Solidarität in den ersten Wochen des russischen Angriffs zum Vergleich heranziehen, wo sich viele Deutsche spontan und „von unten“ in selbstorganisierten Basisbewegungen einbrachten. Erst das mehrheitliche Schweigen, Wegschauen und mehr oder weniger offene Bejahen des Israelhasses vieler Deutscher macht die links-islamistische Querfront so wirkmächtig. Die deutschlandweit gesehen relativ wenigen Demonstrierenden werden bestärkt und radikalisiert, weil sie auf „klammheimliche Zustimmung“ hoffen können und jenseits polizeilicher Repression kaum gesellschaftlichen Widerstand erfahren.

Rechte Menschenfeind_innen, die eine Verschärfung des angeblichen „Kampfes der Kulturen“ forcieren wollen, tragen kein Stück zur Antisemitismusbekämpfung bei. Sie zeigen auf den „Antisemitismus der Anderen“, um sich selbst zu entlasten – personifiziert in der Figur Aiwanger, der sich tatsächlich nicht entblödete, Judenhass auf Geflüchtete zu externalisieren. Die Rechten verstärken sogar die israelische Gefährdungslage, wenn sie fordern, Islamist_innen in die Nachbarländer Israels abzuschieben. Statt einer Anbiederung an solch konservative Positionen, wie sie manche ehemalige Linke schon einmal in den 00er Jahren vollzogen haben, sollten wir Bündnisse mit Teilen der kurdischen und iranischen Linken suchen sowie mit all jenen, die vor Islamist_innen geflohen sind. Hier gibt es ein Verständnis dafür, wieso der Terror der Hamas als verlängertem Arm des Irans eine Bedrohung für jegliche emanzipatorische Bestrebungen ist. Ebenjener Iran, welcher weiterhin ein wichtiger Handelspartner des offiziell ach so israelsolidarischen Deutschlands ist.

In diese Sinne wünschen wir uns eine Linke, die …

  • Herrschaft bekämpft, aber nicht jede Untat vermeintlich oder tatsächlich Unterdrückter glorifiziert
  • Staatskritik übt, aber nicht islamistisch-apokalyptischen Ausnahmezustand mit revolutionärer Randale verwechselt
  • Befreiung anstrebt, aber nicht Befreiungsnationalismus als Mittel zur Überwindung des Kapitalismus abfeiert
  • Antisemitismus nicht nur auf der Rechten verortet, sondern unreflektierten Antizionismus und perfiden Judenhass auch im eigenen Umfeld erkennt
  • Menschlichkeit bewahrt, auch wenn die real existierende Menschheit dazu wenig Anlass gibt
  • sich weder weder von der Macht der Anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen lässt.


Eine solche kosmopolitisch orientierte Linke wäre im Kampf gegen den global heraufziehenden Faschismus dringend nötig.

5. Was können wir tun?

Sicher ist es ratsam, im täglichen Newsbusiness, in den sozialen Medien und auf Demos immer wieder mit Fakten, Fakten, Fakten aufzuklären: gegen verhetzende FakeNews („Kindermörder Israel“) und gegen die tagesaktuelle Delegitimierung des jüdischen Staates. Auf Dauer nachhaltiger wäre es aber, die beschriebene, grundsätzlich solidarische Haltung zu dem Doppelcharakter der israelischen Staatlichkeit zu popularisieren. Und damit auch den Fokus wegzurücken von einer andauernden militärstrategischen Diskussion über Kriegshandlung X oder Y im Mittleren Osten – hin zu einer Kritik des Antizionismus in Deutschland. Eine schwierige Aufgabe. Hier haben sich die versprengten klugen Kräfte in der Linken im letzten Jahrzehnt viel zu sehr in die Defensive drängen lassen. Jetzt brauchen wir aber wieder die altbekannte Kritik im Handgemenge, die jenseits von Dogmen Aufklärung ermöglichen kann.

Wir möchten in diesem Sinne dazu aufrufen, sich zu vernetzen, zusammentun, wenigstens punktuell in die Offensive zu kommen. Da die entsprechenden Kräfte derzeit schwach sind, sollten wir uns auch Guerilla-Taktiken bedienen: konfrontativ sein, um Aufsehen zu erregen. Etablierte Medien für unsere Zwecke nutzen. Kleine Nadelstiche setzen, die Erkenntnis befördern können. Seien es aufklärerische Agitation bei SocialMedia, eigene Kundgebungen, Parolen im öffentlichen Raum, oder gezielte, kritische Provokationen der Palästina-Demos. Aber auch in Diskussion gehen, Fakten liefern und Hintergründe erklären, wo Menschen nicht komplett verblendet sind. Solidaritätsaktionen für die Geiseln im Gaza-Streifen, Kundgebungen vor Synagogen (wo gewünscht) und kreative Angriffe auf Antisemit_innen aller Couleur sind weitere Handlungsoptionen.

Auf dass wir eines Tages mit unseren Genoss_innen „auf dem Wasser des Toten Meers liegen und nichts tun“ können! Bis dahin wird leider noch viel Wasser den Jordan herunter fließen müssen.

gruppe 8. mai [neukölln]

achtermai.blackblogs.org
gruppe8.mai@systemli.org

Fußnoten:
1 https://www.elfriedejelinek.com/israel-hamas/
2 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177365.reinhard-schramm-mache-mir-grosse-sorgen-um-die-sicherheit-des-juedischen-lebens.html
3 https://twitter.com/amirtibon/status/1721764689053467110
4 https://noodnik.at/2023/11/12/wenn-es-ein-judisches-sicherheitsgefuhl-gab-dann-ist-es-nun-verschwunden/
5 https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/amcha-krieg-gegen-israel-fuehrt-zu-neuer-traumatisierung/
6 https://taz.de/Versuchter-Anschlag-auf-Synagoge/!5963814/
7 https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/polls-show-majority-gazans-were-against-breaking-ceasefire-hamas-and-hezbollah
8 https://www.newsweek.com/im-palestinian-west-bank-hamas-alone-responsible-any-bloodshed-gaza-opinion-1835360
9 https://medium.com/amor-mundi/an-open-letter-to-my-friends-who-signed-philosophy-for-palestine-0440ebd665d8
10 https://taz.de/Debatte-um-Berliner-Sonnenallee/!5965454/

Spendenaufruf: Feministische Proteste statt Fundis und Polizei!

Weitergeleitet vom What the Fuck-Bündnis:
“Feministische Aktivist:innen werden mit Repression überzogen. Doch wir lassen uns nicht unterkriegen!
Spendet und zeigt euch solidarisch mit den Protesten gegen christlichen Fundamentalismus und für
reproduktive Rechte!

Seit 2008 protestieren wir lautstark, kreativ und voller Elan gegen den christlich-fundamentalistischen „Marsch für das Leben“, bei dem jährlich selbsternannte „Lebensschützer“ ein generelles Verbot von Abtreibungen fordern. Mit Blockaden und unter tatkräftiger Unterstützung von tausenden Feminist:innen, Queers und Antifaschist:innen wurde der Marsch in den letzten Jahren gestört und verzögert, die christlichen FundamentalistInnen mussten ihre geplante Route verändern und abkürzen. Mit unseren queer-feministischen Demos tragen wir unsere Inhalte für körperliche und sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße. Doch wie so oft findet eine Kriminalisierung feministischer und antifaschistischer Kämpfe statt. Bei unseren kämpferischen aber immer friedlichen Demos finden immer wieder Taschenkontrollen statt und unser Protest wird durch ein hohes Polizeiaufgebot begleitet. Im letzten Jahr war die Kriminalisierung für uns besonders spürbar: Ca. 100 Aktivist:innen, die sich an einer friedlichen Sitzblockade des „Marsch für das Leben“ beteiligten, wurden über mehrere Stunden in einem Kessel von der Polizei festgehalten, ohne Zugang zu Toiletten und auch ohne ersichtlichen Sinn – der „Marsch für das Leben“ hatte schon weiterziehen können. Alle Teilnehmenden wurden in die Gefangenensammelstelle gebracht, wo ihre Identität festgestellt wurde. Bis jetzt haben mehr als 50 Personen Anzeigen wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung, Vermummung und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz erhalten. Doch hier wird nicht nur feministischer Protest kriminalisiert. Der Fall zeigt auch die Konsequenzen der Verschärfungen von Straf- und Polizeigesetzen der letzten Jahre. Die kleinste Regung und Reflexe werden als Widerstand oder Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte kriminalisiert. Die erhöhten Strafmaße sollen gerade junge Menschen vom Protest abschrecken. Doch wie schon immer gilt: Nur weil es kriminalisiert wird, heißt es nicht, dass es falsch ist.

Wir kämpfen weiter für reproduktive Rechte und gegen christlichen Fundamentalismus. Wir lassen uns nicht einschüchtern und halten zusammen!

Doch damit nicht genug an Einschüchterungsversuchen und Repression. Eine von uns 2019 angemeldete
Kundgebung wurde von der Polizei vorzeitig aufgelöst und Aktivist:innen von der Straße gedrängt. Als Grund wurde angegeben, dass der „Marsch für das Leben“ sonst nicht vorbei kommen könnte. Das ist polizeiliche Willkür und stellt aus unserer Perspektive klar einen Verstoß gegen das Versammlungsrecht dar. Gegen diese Maßnahme haben wir Klage gegen die Berliner Polizei eingereicht.

Feministische Kämpfe sind weltweit sichtbar und sind mit Gewalt, Repression und Unterdrückung konfrontiert. Seien es Kämpfe um die körperliche und geschlechtliche Selbstbestimmung von FLINT* (Frauen, Lesben, Trans*, nicht-binären und Inter-Personen), der Einsatz gegen Sparpolitik im Gesundheitsbereich oder die Forderung nach einer gerechteren und feministischen Verteilung von Macht und Gütern – oder generell der Kampf für die Abschaffung des patriarchalen Herrschaftsverhältnisses.
Egal wo, egal wann, egal wie – Feminism is not a crime! Feministischer Protest ist kein Verbrechen! Schwangerschaftsabbrüche sind keine Straftat – wir dürfen selbst über unseren Körper entscheiden!

Ihr kennt das, gemeinsam löffeln wir die Suppe aus und unterstützen jene, die von Repression betroffen sind. Dafür brauchen wir euch, eure Unterstützung und eurer Geld. Ihr habt verschiedene Möglichkeiten, uns zu unterstützen:

1. Money is the only thing I´m after-Special:
Ihr spendet unter dem Betreff „Pro Choice“ (wichtig, sonst kommt das Geld nich an) an die Rote Hilfe. Das Geld können wir dann für anstehende Gerichts- und Anwält:innenkosten nutzen.
Hier die Kontodaten:
Rote Hilfe e.V.
GLS-BankKonto-Nr.: 4007 238 317BLZ: 430 609 67
IBAN: DE55 4306 0967 4007 2383 17
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: Pro Choice

2. Feminist Style-Special:
Vermummen statt Schweigen! Ihr kauft bei Black Mosquito eine unserer in Handarbeit hergestellten Solimasken „Angry Queers“ oder „Feminist As Hell“ in unterschiedlichen Ausführungen, habt was Gutes für uns getan und seht dabei euch noch schick aus:
https://black-mosquito.org/de/gesichtsmaske-feminist-as-hell-soli.html
https://black-mosquito.org/de/gesichtsmaske-angry-queers-soli.html
Außerdem haben wir selbstgedruckte „What the Fuck“-Shirts sowie Patches für euch im Angebot, die wir bei Infoveranstaltungen und -Ständen dabei haben.

3. Social Media Special:
Keine Kohle, aber trotzdem Bock, unsere Kampagne zu unterstützen? Dann schreibt einen Beitrag mit einem Bild (gern auch ohne euer Gesicht), warum ihr die Kriminalisierung feministischer Proteste daneben findet. Fotos erreichen eine größere Reichweite, daher postet diese gern unter folgenden Hashtags auf Twitter, Facebook oder Instagram:
#FeminismIsNotACrime #AngryQueers #ProChoice #nofundis #FeministAsHell”

Gespaltene Subjektivität – Linke Männlichkeit und sexuelle Grenzüberschreitungen. Für eine pro-feministische Praxis von Männern!

Der Text findet sich im Folgenden als Fließtext oder besser lesbar hier als PDF-Dokument mit Fußnoten.

In der Berliner und bundesweiten Linken wurde in den letzten Monaten verschiedene Fälle von sexuellen Grenzüberschreitungen, Übergriffen bis zu hin zu expliziter sexueller Gewalt bekannt gemacht. Diese Taten – vom Monis Rache-Festival über verschiedene Vorfälle im Umfeld von Hausprojekten und zuletzt in und um die Berliner Kollektivkneipen k-fetisch und tristeza – bilden nur die Spitze des Eisbergs einer leider alltäglichen sexuellen Gewalt in der Linken. Dass zuletzt mehr solcher Fälle bekannt wurden, verweist auch auf eine gestiegene Vernetzung und ein gesteigertes Selbstbewusstsein von Feminist_innen, die sich unermüdlich an den Ausformung (linker) Männlichkeit abarbeiten (müssen). Zugleich wurden dazu in den letzten Monaten nach unserem Wissen kaum Texte dazu von (heterosexuellen) Männern veröffentlicht. Auch um die Verantwortung zur inhaltlichen Auseinandersetzung nicht auf Frauen zu verschieben und ihnen damit eine doppelte Last als potenziell Betroffene und als Aufarbeitende aufzubürden, ist dieser Text entstanden. Der Text ist sicher unvollständig, soll aber einen Beitrag zur Diskussion um sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt von linken Männern leisten.

Problembär Männlichkeit

Wir verstehen Männlichkeit nicht essentialistisch-biologistisch, sondern materialistisch als gesamt-gesellschaftliches Problem, als einen Pol des zwangsheterosexuellen Geschlechterverhältnisses, welches die bürgerlich-patriarchale Gesellschaft durchzieht und strukturiert. Männlichkeit ist keine primär individuelle oder moralische Angelegenheit, sondern eine Frage von institutionalisierter, öffentlicher wie privater Macht und Herrschaft. Auch von Subjektkonstitution und Habitus, der ab der frühesten Kindheit eingeübt wird. Und damit ist Männlichkeit eng mit dem Kapitalismus verwoben. Sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt sind ebenso keine Problematik Einzelner, sondern der ganzen Gesellschaft. In der Regel sind Männer die Täter, meist sind Frauen die Betroffenen. Feminist_innen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es alltägliche männliche Praxen und Strukturen sind, die sexuelle Gewalt verharmlosen, verheimlichen und auch aktiv befördern, dass solche Taten Fortbestand haben. Dementsprechend gehen wir von einem Kontinuum von männlichem Dominanzverhalten über Grenzüberschreitungen hin zu Vergewaltigungen aus. Zugleich bleibt es wichtig, zwischen den verschiedenen Formen zu differenzieren bezüglich der Intention der Täter, des Ausmaßes der ausgeübten verbalen und/oder physischen Gewalt sowie des Leidens der Betroffenen.

Aus psychoanalytischer Perspektive hat Rolf Pohl auf den Zusammenhang von (heterosexueller) Männlichkeit und Misogynie hingewiesen, den er als Männlichkeitsdilemma benennt: “Nirgendwo ist der Mann schwächer als in der Sexualität […] Einerseits lastet auf ihm […] der Druck, autonom und keinesfalls abhängig zu sein. Andererseits bemerkt er in seinem Begehren, das er sehr wohl von Frauen abhängig ist. So ist in die Ausbildung von männlicher Sexualität eine ambivalente bis feindselige Haltung gegenüber Frauen und Weiblichkeit eingelagert.”. Männer bestrafen in dieser Hinsicht also mittels sexueller Grenzüberschreitungen und Gewalt Frauen für das Begehren, das sie bei Männern auslösen. Ein “Nein” seitens Frauen können sie demzufolge nur schwer oder gar nicht akzeptieren, weil es ihren Narzissmus verletzt und ihr Selbstbild als autonomes, überlegenes Subjekt verletzt. Durch die Grenzüberschreitung bzw. die sexuelle Gewalt werden Frauen wieder auf den Rang der Untergeordneten und Ohnmächtigen verwiesen, ebenjene Position, die Männer so sehr fürchten und daher verdrängen. Dieses Modell ist sicher sehr schematisch, bringt unseres Erachtens jedoch eine unbewusste psychische Disposition vieler Männer auf den Punkt.

(Post-)Moderne Männlichkeiten
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Geschlechterverhältnis aufgrund umfassender feministischer Kämpfe, aber auch parallel zur Weiterentwicklung des postfordistischen Kapitalismus modernisiert. An dieser Stelle können nur schlaglicht-artig einige Tendenzen dieser Transformation beschrieben werden. Kim Posster etwa weist auf den Wandel männlicher Herrschaft in der Sphäre der Lohnarbeit hin: “Bedeutende Teile der Arbeitswelt brauchen heute zum Beispiel keine offene Konkurrenz der Platzhirsche mehr, sondern ’emotional intelligente’ Team Player. Die nach wie vor bestehenden Boys’ Clubs gesellschaftlicher Machtzentren […] basieren nicht mehr auf einer klassischen patriarchalen Hackordnung, sondern auf flacheren Hierarchien, deren reibungsloser Ablauf von klassichen Mackergehabe eher gestört als befördert wird”. Sarah Speck schreibt hinsichtlich ihrer Studie zu reproduktiven Arrangements in scheinbar aufgeklärten, städtisch-modernen Milieus von “Konstellationen […], in denen die Frauen unter hohem beruflichen Druck die Familie am Laufen halten und die Männer, viele von ihnen in künstlerischen oder Kreativberufen tätig, Stunden um Stunden im Atelier, in ihrer Werkstatt oder Bürogemeinschaft verbringen”. Obwohl viele dieser alternativen Männer zwar im Gegensatz zu ihrer Väter-Generation verbal ihr Interesse und ihre Beteiligung an der Reproduktionsarbeit betonen, verbleibt in der Realität sowohl der Großteil der Sorgearbeit wie auch der emotionalen Last wieder bei den Frauen.

Offenbar existiert heutzutage eine gewisse, mitunter widersprüchliche Vielfalt an Erscheinungs-formen von Männlichkeit, die auch klassen-/schichtspezifisch variieren. Tradierte Formen soldatischer oder sportlicher Männlichkeit oder das im Fordismus hegemoniale Bild des männlichen Alleinverdieners wurden in den letzten Jahren zwar nicht überwunden, aber ergänzt um Formen kreativ-autonomer, kritisch-selbstreflexiver oder auch (scheinbar) egalitär-sorgendener Männlichkeit. Die Pluralität von Männlichkeitsformen macht in diesem Sinne auch eine Pluralität feministischer Kritik notwendig.

Gute Männer – schlechte Männer?

In den letzten Jahren ist hier der Begriff “toxische Männlichkeit” in Mode gekommen, um insbesondere die stereotypen, repressiven Vorstellungen der männlichen Geschlechterrolle zu kritisieren. Damit soll auch das eigene Leiden von Männern an den Idealen von Härte, Konkurrenz und Autonomie thematisiert werden. Zugleich wird der Begriff in der Praxis meist auf bestimmte Formen der Hypermaskulinität bezogen. Zur Aufteilung in toxische und kritische Männlichkeit heißt es in einem pro-feministischen Text: “Solche Unterscheidungen in gute und schlechte Männlichkeit halten wir für problematisch: Sie machen dem männlichen Bedürfnis nach Identifikation mit Männlichkeit ein Zugeständnis […] und vollziehen Modernisierungsprozesse patriarchaler Geschlechterverhältnisse auf der Sprachebene unkritisch nach: Längst ist es Teil neoliberaler Männlichkeitsanforderungen, dass auch cis Männer ihre Männlichkeit zum Teil bewusst gestalten, um besser zu funktionieren”. Das Konzept Toxische Männlichkeit kann so gesehen auch als eine Art Extremismustheorie der Männlichkeit verstanden werden. Nicht zufällig heißt ein Buch des prominenten Männlichkeitsforschers Thomas Gesterkamp “Jenseits von Feminismus und Antifeminismus. Plädoyer für eine eigenständige Männerpolitik”. Paul Hentze/Kim Posster warnen daher: “Männlichkeit kann so ‘entgiftet’ werden und gestärkt wieder auferstehen. Hier ist vor allem interessant, was nicht als toxisch-männlich verhandelt wird: zum Beispiel Leistungsethos, Sportlichkeit und das Selbstbild des Versorgers (der Familie). Als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen Misogynie und männlicher Selbstdisziplinierung, Körperkontrollidealen und Grenzverletzungen sowie vergeschlechtlichter Arbeitsteilung und Sexismus”. Der “Toxik”-Begriff kann also dazu dienen, sich zwischen Selbstoptimierung und Konkurrenz um den Titel “Bester Mann” zu verlieren und eine rundum-renovierte hegemoniale Männlichkeit befördern. Dabei handelt es sich nicht um eine rein akademische Theorie-Debatte um den korrekten Begriff. Die praktischen Auswirkungen in Bezug auf männliche Übergriffigkeit zeigt der oben bereits zitierte Text eines pro-feministischen Cafés aus Leipzig auf: “So kann zum Beispiel ein modernerer Mann, der als Täter in einer intimen Beziehung nicht auf Schläge mit der Faust, sondern auf Gaslighting, Psychologisieren und emotionale Manipulation zurückgreift, auch im Sinne der Legitimation seiner Täterschaft ein Interesse an der Unterscheidung zwischen ‘kritischer’ und ‘toxischer’ Männlichkeit haben”. Auch wenn es wichtig ist, zwischen verschiedenen Männlichkeitstypen und deren gewaltförmiger Wirkung zu differenzieren, besteht die Gefahr, sich zu sehr auf das Adjektiv (toxisch etc.) zu fixieren und die Kategorie Männlichkeit aus dem Blick zu verlieren. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für laut Selbstauskunft erklärtermaßen nicht-toxische, nämlich feministische Männer.

Feministische Männer – nur ein strategisches Label?

Es existieren viele Formen linker Männlichkeit, einige exemplarische Typen seien im Folgenden benannt:
der Antifa-Macker mit den Quarzhandschuhen in der Arschtasche
der grölende Fussball-Ultra
der alles organisierende Kader
der autonome Streetfighter
der stets oberkörperfreie Hippie
der dauerpalavernde Theorie-Macker
der ganz normale Mehrheits-Linke, der die Wirkung seines männlichen Auftretens nicht auf dem Schirm hat

Daneben existiert auch der feministische Mann. Er ist häufig knietief in der urbanen (queer-)feministischen, undogmatisch-hedonistischen Szene verankert, kennt die Inhalte feministischer Theorie und die einschlägigen feministischen Codes aus dem FF. Gewisse Formen des männlichen Umgangs sind ihm als “prollig” verpönt, punktuell werden sich queere Praxen wie lackierte Fingernägel angeeignet. Und eben jenem Typus können auch einige der Männer, die zuletzt als Täter von grenzüberschreitendem/übergriffigen Verhalten geoutet wurden, zugerechnet werden. Zum Teil wurden dabei offenbar auch Machtpositionen ausgenutzt, die nicht ausschließlich dem Geschlecht entspringen, mit diesem jedoch intersektional verbunden sind (Alter, kulturelles Kapital, Arbeitsbeziehungen etc.). Wie kommt es dazu, dass Männer, die sich als feministisch bezeichnen, zum Teil mehrfach und über Jahre die Grenzen von Frauen überschreiten? Wie geht das: “Nach außen für den Feminismus, aber leider frauenfeindlich” (Bilke Schnibbe)?

Wir haben dafür keine umfassende Erklärung, aber verschiedene Ansätze. Sicher kann man in bestimmten Kreisen mit feministischen Codes symbolische/soziale Bonuspunkte einfahren. Die diskursive feministische Hegemonie in manchen linken Kreisen kann mitunter den Effekt befördern, dass sich Männer über die Identifizierung als Feminist in der Männerkonkurrenz günstig positionieren möchten. Jeja Klein beschreibt diese spezifische Männlichkeit, die mit politischer Moral punktet: “Männlichkeit konstituiert sich zu einem guten Anteil in der beständigen Abgrenzung von anderen, vermeintlich schlechteren Männern. […] Wo sich Männlichkeiten für gewöhnlich an „Asis“, vermeintlichen Ausländern, Schwulen, Pädophilen, Gymnasiasten, Bürgersöhnchen, Weicheiern oder Mackern abarbeiten, halten sich linke Männer für besonders intellektuell, rebellisch, unabhängig, moralisch, feinfühlig oder kriegerisch. Dazu gehört das von den meisten abgetrotzte Lippenbekenntnis, irgendwie auch profeministisch […] zu sein”.

Der Feministen-Bonus verspricht mitunter einen moralischen Mehrwert, die praktische Umsetzung der rhetorischen feministischen Ansprüche erfolgt häufig nur begrenzt. “Nach außen für den Feminismus” kann auch bedeuten, dass sich die bekannte Trennung privat/öffentlich in einer linken Variante fortsetzt. In der Öffentlichkeit der linken Szene verhält mann sich korrekt und zurückhaltend, besucht feministische Veranstaltungen und gendert in Polit-Texten. Im privaten Alltag kann es dann schon anders aussehen: in der WG wird nicht gespült, der männliche Redeanteil in WG-Diskussionen soll auch nicht mit der Stechuhr gemesssen werden, und Gefühls- und Sorgetätigkeiten werden nicht oder nur bedingt übernommen. In einem feministischen Zine berichten Frauen von entsprechenden Erfahrungen. Sie haben verschiedene Muster der links-feministischen Männlichkeit ausgemacht, etwa “Der Hahn im Korb” (sich mit vielen Frauen umgeben), „a man is an island“ (Probleme und Konflikte mit sich selbst ausmachen), “Sprachlosigkeit” (sich bei Kritik zurückziehen), “Überforderung” (bei Kritik seine eigene Verletztheit in den Vordergrund stellen und dadurch Trost der Frauen einzufordern) oder “Verlagerung ins Persönliche” (patriarchale Muster als individuelles Verhalten entpolitisieren). In diesem Zine heißt es über die emotionale Arbeitsteilung zwischen den linken Geschlechtern: “Nahe, offene, liebevolle Freundschaften zwischen cis-Männern sind […] eher ungewöhnlich. Viele unserer cis-männlichen Freunde und Bekannten umgeben sich mit (cis-)Frauen in ihren Freund_innenkreisen, die quasi selbstverständlich die Beziehungsarbeit in diesen übernehmen […] Verstärkt wird das noch dadurch, dass vielen cis-Männern beigebracht wurde, es sei wertvoll den eigenen Willen gegen den der anderen durchzusetzen – was Machozüge annehmen kann. Es kann aber auch das ‘Man-baby’ sein, dem es immer schlecht geht und um das sich alle kümmern.”

In dem Text eines anderen Magazins wird das Phänomen des “post-feministischen Mackers” kritisiert, der “gerne davon faselt, dass und WIE gut er Frauen eigentlich behandelt […] Verabredet man sich […] aber auf ein Getränk mit ihm, weil man ihn für einen coolen Typen hält und auf gute Gespräche hofft, sieht man sich am Ende des Abends nicht selten in Erklärungsnot, warum man jetzt nicht automatisch Bock auf [Geschlechtsverkehr] hat […] Vom unterirdischen Umgang mit Frauen seiner männlichen Freunde möchte er sich deutlich abgrenzen, auf ihre Gesellschaft beim allwöchentlichen Sauf- und Koksgelage aber dennoch nicht verzichten”. Hier wird die soziale Nähe (mancher) linker Feministen zu übergriffigen Männern genannt. Mit den anderen Männern verbindet sie vorwiegend der Party-Exzess und die Politik, mit den Frauen das Emotionale und Sexuelle. Selbstverständlich verurteilen sie sexuelle Gewalt, finden vielleicht sogar das Definitionsmacht-Prinzip gut und schreiten ggf. auch bei Übergriffen Dritter ein. Die eigene Tendenz zur Grenzüberschreitung wird jedoch abgespalten. Zudem werden Übergriffe in der undogmatischen Linken in Relation zum gesellschaftliche Durchschnitt vermutlich noch häufiger im Party- und Drogen-Kontext verübt, also in Situationen, wo das Über-Ich aussetzt – oder man sich zumindest im Nachhinein darauf berufen kann.

Feministische Männer als gespaltene Subjekte!
Auch wenn sich aus dem Label “Feminist” in manchen linken Milieus moralischer Mehrwert ziehen lässt, wäre es unseres Erachtens falsch, den entsprechenden Männern eine reine Inszenierung oder bloße strategische Aneignung des Begriffs “Feminist” zu unterstellen. Vielmehr zeigt sich hier eine Männlichkeit im Widerspruch zwischen fortwesender traditioneller und transformierter moderner Männlichkeit einerseits, feministischen Anforderungen andererseits. Jenseits des feministischen Anspruchs wesen auf einer meist vorbewussten, der theoretischen Auseinandersetzung wenig zugänglichen Ebene männliche Muster von Körperlichkeit, Eigen- und Fremdwahrnehmung, Kommunikation und einem grundlegenden Mangel an Empathie fort. Eine Genossin, die diesen Text vorab begutachtete, bemerkte, dass auch linke Männer vielfach nicht fähig seien, sich emotional in andere hineinzuversetzen. Da sie diese Kompetenz nicht gelernt hätten, könnte sie auch nicht als fehlend erkannt werden. Man könne ja sogar wollen und nicht können. Gerade die Graubereiche und das Nicht-Intentionale in einer Betrachtung (linker) Männlichkeit sei so interessant und bliebe oft unberücksichtigt. Laut Kim Posster handelt es sich um “Männer, … die trotz subjektiver Ablehnung des Patriarchats in tiefen libidinösen, sozialen und ökonomischen Bindungen wie Abhängigkeiten von Männlichkeit leben”. Die Widersprüche ziehen sich durch die männlichen Subjekte durch, es entsteht eine „gespaltene Subjektivität“, wie es ein Genosse formulierte, der diesen Text vorab las. Gerade angesichts der weitgehenden gesellschaftlichen Irrelevanz der Linken, die sich schon aus ihrer zahlenmäßigen Schwäche ergibt, und der Übermacht des gesellschaftlich tief verankerten Patriarchats kann dieser Widerspruch kaum individuell von den einzelnen Subjekten und auch nur bedingt vom marginalen linksradikalen Kollektiv aufgelöst werden. Frühkindlich erlernte Verhaltensmuster und psychische Dispositionen, Leistungsethiken der Produktionssphäre, mediale Männerbilder oder, ganz banal, die samstägliche Präsenz betrunkener Fussballfans oder cooler Typen im Club lassen sich nicht einfach durch einzelne Workshops oder Gesprächsrunden wegreflektieren.

Dieser Widerspruch, als Mann sozialisiert zu sein und in einer patriarchalen Gesellschaft zu leben, und sich andererseits in einem vom Feminismus mit beeinflussten Milieu zu bewegen, wird jedoch nicht szene-öffentlich diskutiert. Meist vermutlich auch nicht privat – oder nur in sehr intimem Rahmen. Es entsteht eine Tabu-Situation: das individuell von den feministischen Männern Verdrängte wird auch kollektiv, von der Szene, verdrängt. Das widersprüchliche Spannungsverhältnis verschärft sich dadurch noch, es entsteht die Gefahr einer subjektiven Krise. Diese Krise wird von manchen Männern stillschweigend ausgehalten. Andere entfliehen ihr durch verschiedene Abwehrmechanismen, etwa eine politische Abkehr von der feministischen Linken, Re-Tradionalisierung von Männlichkeit, misogyne Verbal-Angriffe auf einzelne weibliche Feminist_innen oder punktuelles Ausleben von (sexuellen) Aggressionen und Grenz-überschreitungen. Da es so gut wie keine Räume gibt, wo angstfrei mit der beschriebenen Wider-sprüchlichkeit umgegangen werden kann, wird dann also das (partiell) feministische Über-Ich wieder durch die verdrängten, ansozialisierten männlichen Macht- und Herrschaftsimpulse ersetzt, die entweder nur in spezifischen Situationen oder sogar dauerhaft wieder die Oberhand gewinnen.

Jeja Klein hat in dem Text “Die Angst vor den Feministinnen” eindrücklich beschrieben, wie diese gespaltene Subjektivität und das Männlichkeitsdilemma sich in sexueller Hinsicht artikulieren: “Sexuelle Lust, die in männlich dominierten Gesellschaften zutiefst mit Gewalttätigkeit verwickelt ist, mit Dominanz, Unterwerfung, Eroberung, Besitz und Benutzung, bekommt bei linken Männern dadurch noch eine intensivere, deutliche Nachprägung: die der Angst vor der Bestrafung. Linke Frauen sind schlicht wesentlich mächtiger als vereinzelte, nichtlinke Frauen ohne feministische Aufklärung und weibliche Solidarität. […] Dadurch gewinnen linke Frauen eine unheimliche Macht […] sexuelle Macht vermittels ihrer Körper, politische Macht vermittels ihrer Organisation als Frauen, moralische Macht vermittels des Selbstbewusstseins ihrer objektiven gesellschaftlichen Lage. Das klassische Männlichkeitsdilemma, als Mann autonom sein zu sollen, als Begehrender jedoch vom weiblichen Gegenüber zutiefst abhängig zu sein, verschärft sich bei linken Männern […] Dadurch erleben sich diese Männer noch stärker als sonst ihres gewohnten Einflusses und ihrer Autonomie beraubt […] Sie wollten die großen Antworten auf die historisch drängende Revolution geben – und verheddern sich in scheinbar kleingeistigen Liebeskonflikten.”

Bei aller psychischen Verwickeltheit ins Patriarchat, bei aller Zwangsprägung durch die Gesellschaft und trotz aller immer wieder gescheiterten Befreiungsversuche: Die beschriebenen Männlichkeitsdynamiken sind kein unabänderliches Schicksal, und Männer sind ihnen nicht komplett ohnmächtig ausgeliefert. Allzulang ist eine explizite pro-feministische Praxis von Männern vernachlässigt worden. Dazu im Folgenden noch einige praktische Gedanken.

Für eine pro-feministische Praxis von Männern!

Sicher ist Reflektion über die eigene Verstrickung in das Patriarchat für Männer ein wichtiger Baustein in der Auseinandersetzung mit Männlichkeit. Darauf hat kürzlich Bilke Schnibbe hingewiesen: “Männer, auch solche, die keine Täter sind, haben Misogynie, Frauenfeindlichkeit, verinnerlicht, die sie sich selbst nicht eingestehen können, weil das ihren bewussten Werten entgegensteht […] Es reicht nicht, auf die anderen, die vermeintlich wirklich schlimmen Männer zu zeigen, es ist vielmehr nötig, in sich selbst nach misogynen Impulsen, Wünschen und Abgründen zu suchen, um für diese Verantwortung übernehmen zu können”. In den letzten Jahren ist in diesem Zug der Begriff des “Ally” zunehmend in Mode gekommen. Der Ally soll seine eigene Position reflektieren, Privilegien abgeben und die Unterdrückten unterstützen. Aus unserer Sicht kann der Ally, der Kuchen backt für die feministische Veranstaltung und sich auf die reine Unterstützerposition zurückzieht, nur bedingt ein positives Modell sein. In seiner Weigerung, als Ally eigene Position zu beziehen zu übernehmen, kann er mitunter sogar dem oben zitierten “Man-Baby” ähneln. Wie die “Gruppe ff” schrieb, darf die Verantwortung von Männern nicht auf “passive Hilfsgesten” reduziert werden: “Damit wird ihnen die eigene gesellschaftliche Analyse des Patriarchats abgenommen und somit auch die Beantwortung der Frage, welches Interesse sie selbst an seiner Abschaffung haben könnten”. Statt “Wohlfühlblasen” brauche es neben FLINT-Räumen auch “solidarische Bündnisse” von weiblichen und männlichen Feminist_innen.

Als eine Form des pro-feministischen Engagements werden zuletzt immer wieder die autonomen Männergruppen der 1990er-Jahre zitiert, deren Wirken z. T. in den online archivierten “Männer-Rundbriefen” archiviert ist. Bilke Schnibbe dazu: “Die profeministische Männerbewegung […] hat sicherlich […] Grundlagen gelegt. Hier braucht es ein deutlich stärkeres Engagement profeministischer Männer, die antifeministische Wendungen und Ausflüchte in der Männerarbeit konkret parieren können. Das ist allerdings auch kein Allheilmittel, da aus Männergruppen schnell männerbündische Strukturen entstehen können, in denen man oberflächlich feministisch an sich arbeitet, während misogyne Grundhaltungen unangetastet bleiben.” Eine solche pro-feministische Bewegung von Männern müsste also auf dem schmalen Grat wandeln zwischen der Solidarität mit den betroffenen Frauen und Queers, der Auseinandersetzung mit der eigenen, letzten Endes zu überwindenden Männlichkeit, sowie den versteinerten patriarchalen Verhältnissen, die Abweichungen von der männlichen Norm mitunter rigide bestrafen. Männer sollten sich also über den Besuch einzelner, in letzter Zeit recht beliebter Workshops zu “Kritischer Männlichkeit” hinaus dauerhaft pro-feministisch organisieren, auch um nicht die Last der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat auf die weiblichen Feminist_innen abzuwälzen. Inwieweit hier eigene Männer-Gruppen besser geeignet sind als gemischt-geschlechtliche Zusammenhänge, können wir derzeit nicht beurteilen.

In welcher Form auch immer: die Männer sollten in engem Austausch mit Frauen/Queers stehen, um die spezifischen Erfahrungen und Interessen der Letzteren immer wieder neu mitzudenken, aber auch um eigenen patriarchalen Tendenzen entgegen zu wirken. Dieser Spagat kann nicht ohne Fehler, ohne Verunsicherungen und Auseinandersetzung ablaufen. Bilke Schnibbe meint, daher “sollten Linke eine Fehlertoleranz in dieser Solidarität entwickeln, jedoch diejenigen, die Fehler machen, nicht aus der Verantwortung entlassen. Es braucht eine Streitkultur, die eine klar antisexistische und solidarische Haltung mit Betroffenen verteidigt und zugleich Fehler und Widersprüchlichkeit aushalten kann.” Mittels einer solchen Fehlerkultur und Streitbereitschaft könnte zwar die oben skizzierten Aufspaltung nicht vollständig aufgehoben, aber immerhin ihren grenzüberschreitenden und gewaltförmigen Konsequenzen entgegen gewirkt werden.

Aus unserer Sicht sollte die Reflektion und Organisierung auch zu einer inhaltlichen Schärfung radikaler, anti-identitärer Männlichkeitskritik führen. Edgar J. Forster definiert Männlichkeitskritik als “Analyse alltäglicher sexistischer Praktiken, der diese Praktiken zugrundeliegenden patriarchalen und phallozentrischen Strukturen. Männlichkeitskritik ist Machtkritik. […] Offen ist dieses Projekt, weil Männlichkeitskritik keine neuen Männerbilder entwirft. Männlichkeitskritik bezieht ihre Kraft nicht aus der ‘Krise von Männlichkeit’, sondern aus der Lust auf ein anderes Begehren”. Ein Begehren, so verstehen wir es, nicht als Lust auf eine alternative Männlichkeit, sondern als Befreiung von den Fesseln männlicher Identität. Auch wenn es wichtig ist, zwischen verschiedenen Männlichkeitstypen und deren Auswirkungen auf Frauen zu unterscheiden: aus unserer Sicht ist Männlichkeit grundsätzlich nicht positiv reformierbar. Statt Kritischer Männlichkeit fordern wir eine radikale Kritik der Männlichkeit mit dem perspektivischen, derzeit leider utopischen Ziel ihrer Abschaffung. Die Aufhebung der bipolaren Geschlechterordnung sollte nicht auf eine Vervielfältigung von Identitäten zielen, sondern Geschlecht als soziale Strukturkategorie und als Form/Identität/Habitus überwinden. Männer sollten an dieser Bewegung der Kritik mindestens ebenso wie Frauen und Queers mitarbeiten, und können hier zudem ihre spezifischen Perspektiven aus der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Männlichkeit mitbringen.

In Bezug auf den Anlass dieses Textes, sexuelle Übergriffe in der Linken, sollten pro-feministische Männer dringend auf breiterer und verbindlicher Basis praktisch werden. Hierzu mehrere Vorschläge, die wir aus der einschlägigen Literatur gezogen haben:
Prävention z. B. durch entsprechende Bildungsarbeit, inhaltliche Positionierung in linken Räumen, Mitdenken des Themas Übergriffe bei linken Veranstaltungen und Parties etc.
In Diskussionen gehen/kontinuierliches Ansprechen des Themas, ohne dass es dazu konkreter Ereignisse oder Druck von Seiten von Frauen bedarf
eigeninitiativ einen Blick für dominantes/aufdringliches Verhalten und sexuelle Grenzüberschreitungen von Männern entwickeln und diese Männer ansprechen, ohne sich selbst als “besseren Mann” zu inszenieren
Empathie erlernen/in empathischen Kontakt mit Frauen zu dem Thema treten und praktische Schritte anzubieten, die Frauen entlasten können (z. B. grenzüberschreitende Männer anzusprechen)
transformative Arbeit mit Tätern leisten
Gruppen bilden, die Betroffene in Fällen sexueller Gewalt unterstützen

Das sind viele kleine Schritte auf dem Weg zu einer Veränderung. So mühselig das sein kann, so wenig sollte diese Arbeit als Einschränkung oder zusätzliche Last (Nebenwiderspruch?) im Polit-Alltag verstanden werden. Es sind Schritte auf dem Weg vom patriarchal geprägten Mann zum freien Mensch. Hin zu einer “Zukunft des Mannes, in der er vielleicht eines Tages gar keiner mehr sein wird – in der er sich also den Zuschreibungen entziehen und frei sein, Mensch sein wird, ohne ein eingehegtes Andere dazu zu brauchen, ohne sich selbst einzuhegen” (Carolin Wiedemann). Oder, wie es das Bündnis “drift – feminist alliance for communism” ausdrückt: “Dies wäre eine Gesellschaft, in der Geschlecht nicht mehr mit Zuschreibungen verknüpft ist und somit kein reproduktives Organ den Verlauf eines gesamte/n Lebens bestimmen kann. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sind, in der Menschen lieben, wen sie wollen und selbst über ihre Körper verfügen”.

gruppe 8. mai – Sektion Männer
achtermai.blogsport.de

Ganz herzlichen Dank an alle Genoss*innen, die in den letzten Wochen mit g8m
diskutiert haben und deren Gedanken den Text entscheidend mit geprägt haben.

Solidarität mit den Alten, chronisch Kranken und Behinderten – Gegen Sozialdarwinismus, Querfront und Kapitalismus! Redebeitrag zu den Protesten gegen die „Hygiene-Demos“

Solidarität mit den Alten, chronisch Kranken und Behinderten –
Gegen Sozialdarwinismus, Querfront und Kapitalismus!
Redebeitrag zu den Protesten gegen die „Hygiene-Demos“

Es waren Berliner Linke, die die Hygiene-Demos und damit die Corona-Querfront angeschoben haben: Künstler_innen, ehemalige taz-Mitarbeitende, Antikapitalist_innen. Und immer noch beteiligen sich trotz aller Kritik Linke an solchen Querfront-Demos: in Aachen sprach mit Andrej Hunko ein Bundestagsabgeordneter der Linkspartei vor Rechtsradikalen. Bei einer Kundgebung von Attila Hildmann kamen Leute mit Thor Steinar- und Feine Sahne Fischfilet-Shirts zusammen. Und immer wieder sehen wir Gruppen von Bauchlinken, Hippies oder Alternativen in den Demos. Es ist erschreckend, wie offen diese Leute den antifaschistischen Konsens der Linken durchbrechen. Dabei sollte doch spätestens seit Auschwitz klar sein, für was Rechte stehen: für eliminatorischen Antisemitismus, für die rücksichtslose Vernichtung von Menschen, den radikalstmöglichen Massenmord. Also für das absolute Gegenteil einer besseren Gesellschaft.

Aber selbst wenn sich die ursprünglichen Initiator_innen der Hygiene-Demos nun von den Geistern, die sie riefen, distanzieren und von Nazis abgrenzen: das wirklich Erschreckende sind die inhaltlichen Schnittmengen mit den Rechten. Zu diesen Überschneidungen gab es in den letzten Wochen schon einige gute Analysen: manche Linke teilen mit deutschen Normalkartoffeln und Nazis den Fetisch, den Kapitalismus in den immergleichen Superreichen zu personalisieren. Auch teilen sie die Ideologie, der Staat sei eine Verschwörung von Wenigen, ein bloßes Instrument der Manipulation. Ähnlich sind auch die Ressentiments gegen die Medien, die „Lügenpresse“. Zurecht wurde von Antifas darauf hingewiesen, dass es wieder an der Zeit ist, die Waffen der Kritik zu schärfen. Genau hinzuschauen und zu streiten: Was ist Kapitalismus, was ist der Staat, was bedeutet die Totalität des falschen Ganzen, wie funktioniert Herrschaft? Aber auch: Wo sind wir selbst immer wieder in Widersprüche verstrickt, die uns ohnmächtig machen, von denen wir uns aber nicht dumm machen dürfen? Wir hoffen, dass sich nun wieder eine streitbare linke Bewegung entwickelt, die lautstark gegen Antisemitismus und Verschwörungsideologie vorgeht, und gleichzeitig die materiellen Grundlagen dieser Ideologien, also Staat und Kapital, effektiv angreift.

In diesem Zusammenhang möchten wir auf einen Punkt eingehen, der unseres Erachtens bisher in der Diskussion zu kurz kommt: der Sozialdarwinismus, der die Rechten, das Kapital und manche Linken verbindet. Das Corona-Virus ist bekanntlich eine tödliche Gefahr insbesondere für alte Menschen sowie Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen. Schon in der 2. Märzhälfte, wenige Tage nach dem Lockdown, wurden Stimmen laut, die den Schutz der Alten und Kranken in Frage stellten. So fragte ein bekannter Manager im Handelsblatt: “Ist es richtig, dass zehn Prozent der … Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden?” Der drohende Tod zahlloser Älterer und chronisch Kranker ist für diese Gesellschaft offenbar noch lange kein Argument, den (ökonomischen) Betrieb einmal ernsthaft auf Pause zu stellen. Das führte zu der Absurdität, dass es verboten allein war, alleine auf einer Parkbank zu sitzen, aber nicht, sich ohne Mindestabstand mit Dutzenden Arbeitskolleg*innen am Fließband oder im Büro aufzuhalten. Die nicht oder nur bedingt ökonomisch verwertbaren „Risikogruppen“ sollen nach dem Wunsch der Hygiene-Demos und bestimmter Kapital-Fraktionen einem tödlichen Risiko ausgesetzt werden, um nicht den eigenen Profit zu gefährden. Als über eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems diskutiert wurde, wurde es besonders menschenverachtend: Die sozialdarwinistische Haltung, Menschen mit Vorerkrankungen müssten eben sterben, wenn nicht genügend Intensiv-Betten vorhanden seien, wurde durch eine Stellungnahme medizinischer Fachgesellschaften legitimiert. Aktivist_innen der Behindertenbewegung kritisierten diese Stellungnahme als „Alptraum“ und „Einfallstor, um sich im Zweifelsfall gegen das Leben eines Menschen zu entscheiden, nur weil er eine Behinderung hat.“ Leider gab es dazu kaum linke Resonanz. Zuletzt wurden zahlreiche Lockerungen der Kontaktbeschränkungen seitens der Bundes- und Landespolitik beschlossen. Dies geschah v.a. auf Druck von wichtigen Kapitalfraktionen und auch aufgrund der medial viel beachteten Querfrontproteste. Auch wenn die Infektionszahlen derzeit glücklicherweise nach unten zeigen: Ggf. werden diese Lockerungen noch vielen Menschen das Leben kosten.

Was hat das nun mit der Linken zu tun? Unseres Erachtens hat die Linke im Gegensatz zu manch anderen Kämpfen, in denen sehr klar Stellung bezogen wird, bisher relativ indifferent auf die Corona-Krise reagiert. Es bleibt oft unklar, was genau mit der linken Solidarität gemeint ist. Seit Langem ist die Linke in Deutschland vorwiegend eine Jugendbewegung, die sich gerne als aktiv, dynamisch, modern und peppig inszeniert. Ältere und chronisch kranke Menschen passen mit ihren Anliegen, Bedürfnissen und ihrem Lifestyle oft nicht in diese linke Szene hinein. Ihre Themen scheinen weder sexy noch cool. Neben dieser sozialen und generationsbedingten Distanz zeigt sich auch eine theoretische Unschärfe der Linken. Themen wie Altern, Krankheit, Pflege und Sterben werden nur selten von Linken aufgegriffen, und noch seltener als systematischer Teil linker Gesellschaftskritik verstanden. Welche Linke beschäftigen sich etwa mit Jens Spahns Plan von 2019, Menschen mit Beatmungsbedarf zwangsweise aus ihren Wohnungen in Heime zu verlegen? Wann wird in Autonomen Zentren, besetzten Häusern oder auf linken Sommercamps schon mal über die soziale Entwertung von Rentner_innen, die nicht mehr arbeitsfähig sind, diskutiert? Wo gibt es linke Konzepte, wie der zunehmende Pflegebedarf in der Gesellschaft emanzipatorisch befriedigt werden kann?

Für uns ist klar: die sozialdarwinistische Abwertung von Alten und Kranken muss generell ein wichtiges linkes Thema sein. Und sie betrifft uns alle: jede_r von uns wird hoffentlich einmal alt, jede_r von uns kann einmal krank werden, jede_r soll schwach sein können! Es darf keine Unterscheidung in „lebenswertes“ und „unwertes“ Leben geben. Auch nicht in der Corona-Krise. Auch nicht, wenn eine Überlastung des kaputtgesparten Gesundheitswesens droht! Es ist eben nicht ok, wenn Menschen in manchen Pflegeheimen wie die Fliegen sterben, weil sie nicht ausreichend geschützt werden und der wirtschaftliche Betrieb wieder weitergehen soll! Das ist ein Skandal, und die radikale Linke muss diesen Skandal deutlich benennen! Wieso gibt es keine Demos vor den Betreibern der Pflegeeinrichtungen, die oft hohe Dividenden ausschütten, während die Gepflegten wegen des Personalmangels in den Heimen sozial isoliert werden? Wo bleiben die kreativen Aktionen gegen die Ärzte-Verbände, die sich für die Triage aussprechen und damit indirekt für das Sterbenlassen von Alten, Kranken, Behinderten? Wieso werden Kapitalist_innen und Politiker_innen, die Menschen aus Risikogruppen aktuell zur Arbeit mit Publikumsverkehr zwingen, nicht offensiv angegangen?

Wir wollen eine Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert. Ob jung oder alt, cool oder uncool, ist uns scheissegal. Jeder Mensch zählt. Sozialdarwinismus, Verachtung des Lebens, Affirmation des Todes sind für uns menschenfeindliche, rechte Konzepte. Das aktive Einverständnis mit dem Tod zahlreicher Menschen, das in der Corona-Krise immer wieder geäußert wird, bedeutet „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: … dem Staat, der Natur oder dem Gott“, wie es Herbert Marcuse einmal ausgedrückt hat.

Wir wenden uns gegen den Tod, gegen den Gott, gegen den Staat, gegen das Kapital und gegen das Diktat der toten Arbeit! Wir fordern ein schönes und möglichst langes Leben für Alle! Und das heißt in Corona-Zeiten: volle Solidarität mit alten, kranken und behinderten Menschen. Und für eine umfassende, globale Bekämpfung des Corona-Virus, so dass bald wieder alle Menschen voll an der Gesellschaft teilhaben können!

Corona du Opfer, gib Impfung – Kapitalismus du Opfer, gib gutes Leben!

gruppe 8. mai [berlin/wuhan/lagos]
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Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise

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Text als Fließtext:

Die radikale Unfähigkeit des Kapitalismus, ein (gutes) Leben zu garantieren – Ambivalenzen, Widersprüche und linksradikale Forderungen in der Corona-Krise

“Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst des Corona-Virus”
(Christian Drosten) [1]

Ein vehementer Angriff erschüttert derzeit den Globus: das Corona-Virus, das tödliche Konsequen-zen mit sich bringen kann, versetzt viele Menschen in Angst und Panik und stellt scheinbar alle sozialen Gewissheiten in Lichtgeschwindigkeit auf den Kopf. Auch die Welt der Autor_innen steht derzeit Kopf – der folgende Text versammelt einige Gedanken, Perspektiven und Forderungen, ist aber nur bedingt stringent und deckt sicher nicht alle relevanten Themenfelder ab. Neben der ambivalenten Rolle des Staates in der Corona-Krise wollen wir auch auf die Ebene des Subjektes eingehen und zum Ende einige politische Forderungen formulieren.

Gesunder Kapitalismus?
Die kapitalistische Gesellschaft ist bekanntermaßen auf Profit ausgerichtet: das Kapital beutet die Arbeiter_innen aus und eignet sich den von ihnen produzierten Mehrwert an. Der Staat ist, kurz gesagt, für die Gewährleistung der Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation zuständig. Dazu gehört auch die Gesundheit der Bevölkerung, an welcher der Staat prinzipiell ein Interesse hat, um sowohl die Produktion als auch Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten. Zu diesem Zweck unterhält der Staat in Deutschland etwa kommunale Gesundheitsämter, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und weitere nachgeordnete Bundesbehörden. Zudem existiert ein hochkomplexes Gesundheitswesen, das im Wesentlichen von den Krankenkassen und medizinischen Akteuren (Ärzteverbänden, Kliniken etc.) selbst verwaltet wird und für das der Staat lediglich die Rahmenbedingungen setzen soll.

Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von einem Rückzug des Staates aus weiten Bereichen der Daseinsvorsorge bei gleichzeitiger autoritärer Formierung in Form des Ausbaus von Polizei, Militär und Überwachung. Im Zuge dieser Transformation seit den 1980er Jahren wurden auch in vielen Ländern der Welt die Gesundheitssysteme – analog zur Waren-Produktion – auf JustInTime-Systeme umgestellt. So wurden etwa Bettenkapazitäten abgebaut und die „blutige Entlassung“ nach Operationen eingeführt, Fallpauschalen eingeführt, Personal und Labore eingespart sowie Kliniken und Pflegeheime privatisiert. Eine Entwicklung die u.a. dazu führte, dass Menschen in Pflegeheimen mitunter vor sich hin vegetieren, während zugleich Pflegeheim-Ketten zu den profitabelsten Kapital-Anlagen avancierten. Das Virus trifft damit – zumindest in Deutschland – auf ein auf Kante genähtes , profit-orientiertes Gesundheitssystem, das seit Jahren ohne große Konsequenzen im Modus des Pflege-Notstandes läuft.

Starker Staat …!?
Wie reagiert nun der Staat? Im bekannten kapitalistischen Krisen-Modus wird das Parlament und die politische Opposition wie auch die kritische Zivilgesellschaft (ganz zu schweigen von der außer-parlamentarischen Linken) quasi umgehend bedeutungslos. Bundesweite politische Akteure er-scheinen hauptsächlich in Person der Kanzlerin, einzelner Bundesminister sowie der Ministerpräsidenten. Sie treffen ihre Entscheidungen unter Einbezug des medizinischen Experten-Wissens, personalisiert durch den neuen Posterboy der Nation, den Virologen Christian Drosten. Expert_innen anderer Berufszweige (Politikwissenschaftler_innen, Jurist_innen, Psycholog_innen etc.), geschweige denn dissidente Meinungen, finden kaum noch Gehör.

D.h. die Exekutive regiert weitgehend durch und bedient sich dabei stark des Instruments der Ver-ordnung, die im Gegensatz zum Gesetz nicht das Parlament passieren müssen. Das Parlament als der klassische Ort der Selbstreflektion der bürgerlichen Gesellschaft ist somit weitgehend ausgehebelt. Wo der Bundestag doch noch einbezogen wird, winkt er größtenteils in vorauseilendem Gehorsam eilig formulierte Gesetze durch. Aktuell wurde am 24.03.2020 die Überwindung des föderalistischen Prinzips auf der Ebene des Infektionsschutzes von einer breiten Mehrheit verabschiedet, nur AfD und Linkspartei enthielten sich. Mit diesem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite” hat die Bundesregierung Kompetenzen der Länder an sich gezogen, weitreichende (digitale) Überwachungsbefugnisse installiert sowie die Gesundheitsämter zur Umsetzung verschärfter Ausgangssperren und Ortsverbote befähigt. Nur ein Beispiel von Mehreren, das zeigt, wie Grundrechte wie das Recht auf Bewegungsfreiheit und auf informationelle Selbstbestimmung derzeit ohne wirklichen Widerspruch beschnitten werden.

Zugleich verfolgt die Bundesregierung eine offen nationalistische Politik, die ebenfalls loyal von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird. Anfang März hatte ausgerechnet der Exportwelt-meister Deutschland ein zweiwöchiges Verbot des Exports medizinischer Schutzausrüstung ins Ausland erlassen. Dieses Verbot wurde in der zweiten Märzhälfte durch eine EU-Verordnung gekippt, die nun wieder einen Export ermöglicht – allerdings nur innerhalb des EU-Binnenmarktes. Zudem wurden in den letzten Wochen immer mehr Grenzen zu den Nachbarländern Deutschlands geschlossen. Offenbar ging Berlin im Alleingang vor und hat damit das Schengener Abkommen ausgehebelt, zum Ärger der offiziellen Politik Frankreichs und Italiens. Nicht einmal deren diplomatische Kritik an der Bundesregierung wird hierzulande noch zur Kenntnis genommen Dabei handelt es sich bei den Grenzschließungen um eine komplett ideologische Maßnahme, die keine epidemiologische/medizinische Evidenz im Kampf gegen die Pandemie hat. Es geht lediglich um das Signalisieren von Handlungsmacht und Souveränität, wohl auch um rassistischen Befürchtungen bezüglich eines zweitens 2015 (Einreise hunderttausender Geflüchteter) zuvor zu kommen.

Im Zuge der autoritären Formierung der letzten Jahre wurde auch ein weiterer Akteur der Exekutive weiter gestärkt: die Polizei. Sie mauserte sich oft zum eigenständigen politischen Player, etwa in der Hetze gegen linke Bewegungen (vgl. Connewitzer Silvesternacht). Die Polizei wird nun auch die bundesweiten Ausgangsbeschränkungen durchsetzen und es wird zu beobachten sein, wie sie hier agiert. Erste Erfahrungen aus Frankreich zeigen eine hohe Aggressivität der flics und eine Fokussierung auf die Stadtteile der sozial Benachteiligten. In Deutschland scheint bisher allein die starke Polizei-Präsenz auf der Straße schon einschüchternd auf die Untertanen zu wirken. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Personengruppen wie PoC, Wohnungslose und Drogenkonsument_innen, die vorher schon im Fokus der Repression standen, nun noch stärker polizeilich drangsaliert werden.

Parallel zu den repressiven Formaten werden von der Politik ungewöhnlich umfangreiche Finanz-Programme aufgelegt, die sich an Banken und Unternehmen richten, aber auch einige Härten der Corona-Krise für kleine Selbstständige, Mieter_innen etc. auffangen sollen. Plötzlich fällt etwa die Vermögensprüfung auf Grundsicherung weitgehend weg, die lange ein fester Pfeiler des Verar-mungsprogramms HartzIV war. Jedoch wurden diese Erleichterungen wohl vor allem installiert, um die kommende Antragsflut überhaupt durch die Jobcenter bewältigen zu können, sowie um möglichen sozial unerwünschten Folgen der Verarmung breiter Schichten (Anstieg von Suiziden und selbstschädigendem Verhalten, erhöhte Kriminalität, Verrohung etc.) entgegen zu wirken. Wie weitreichend einzelne Maßnahmen auf den ersten Blick auch scheinen: sie können die tiefen ökonomischen Einschnitte des derzeitigen Ausnahmezustands mit Sicherheit nicht ausgleichen, maximal etwas abmildern.

Reaktionäre Begleitrhetorik

Begleitet wird die Krise von einer politischen und medialen Rhetorik des Ausnahmezustands, des Appellierens an Gemeinschaft und Solidarität, des Durchhaltens und Engagements. Mehr oder weniger offen wird eine Nationalisierung des Diskurses betrieben, wenn etwa die Kanzlerin in ihrer An-sprache von einer „Herausforderung an unser Land“ wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr spricht. Als ob der 2. Weltkrieg wie eine Naturkatastrophe über die Deutschen hereingebrochen wäre und nicht ein von ihnen initiierten Vernichtungskrieg gewesen wäre. Auch kulturindustriell wird schwarz-rot-gold gewedelt, wenn etwa der Rapper LGoony plötzlich „Desinfektion“ auf „Nation“ reimt und Capital Bra an sein Publikum als „Deutsche“ (sowie „Österreicher und Schweizer“) appelliert. Vom rechten Rand werden fleißig rassistische Projektionen auf Asiat*innen und Geflüchtete sowie antisemitische Verschwörungstheorien in Umlauf gebracht. In SocialMedia sind diese Feindbilder derzeit durchaus relevant. Die diversen angeblichen oder tatsächlichen „Nachbarschaftshilfen“ von Rechts sind derzeit von uns in ihrer Wirkmächtigkeit noch nicht einzuschätzen. In den etablierten Medien spielen AfD und Co. hingegen im Gegensatz zu den letzten Jahren kaum eine Rolle.

… schwacher Staat!?

Die aktuelle Tendenz zum autoritären Maßnahmenstaat ist deutlich zu kritisieren, zumal die vor Kurzem noch unvorstellbare Repression durch ein gutes Gesundheitswesen, ein frühzeitiges Ernstnehmen der nahenden Pandemie, die massenhafte Ausweitung von Tests etc. zu vermeiden gewesen wäre. Es wäre jedoch zu eindimensional, den Staat nur als allmächtige Unterdrückungsmaschine zu betrachten, der die Krise inszeniert, um sein Repressionsarsenal auszubauen. Das psychische wie physische Leid, das durch Corona hervorgerufen wird, ist fucking real! Schwere Lungenentzündungen, heftige Atemnot, hohes Fieber und elender Zustand über Tage oder Wochen – so sieht die Bilanz für viele der Erkrankten aus. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Infizierten werden klinische Behandlungen, künstliche Beatmung und Behandlung auf der Intensivstation notwendig. Schlussendlich bedeutet Corona für einen von Region zu Region variierenden Anteil der Infizierten den Tod. Vor Allem ältere und chronisch kranke Menschen sind von solchen gravierenden Verläufen bis hin zum tödlichen Ausgang betroffen. Aber auch für jüngere Menschen kann eine Corona-Infizierung mitunter massive akute und ggf. auch chronische Folgen haben.

Der Staat ist daher neben seiner gewaltförmig-repressiven Seite mindestens ebenso für sein Ver-sagen, den Schutz und die Gesundheit der Einzelnen zu gewährleisten, zu kritisieren. Im österrei-chischen Ischgl wurde etwa die Corona-Welle lange nicht thematisiert, um den Ski-Tourismus nicht zu gefährden. Am Beispiel Ischgl zeigt sich unter dem Brennglas, wie Kapital und Staat die Gesundheit vieler Menschen zugunsten des Profits opfern. Auch in China wurden tausende Menschenleben geopfert, nicht weil der Staat zu repressiv handelte, sondern weil er zu spät eingriff – und auf frühe Warnungen nicht hörte bzw. diese sogar aktiv unterdrückte. Ebenso wurde der Virus in faschistoiden Regimen wie dem Iran nicht ernst genommen, sondern sogar geleugnet, oder die Ausbreitung noch befördert durch religiöse Praxen wie das Besuchen von heiligen Stätten. Die staatliche Autorität hat in diesen Fällen also nicht den Virus instrumentalisiert, um die Dissidenz niederzuhalten, sondern im Gegenteil hat sich der Staat hier mit dem tödlichen Virus gegen die Bevölkerung verbündet. Derartige staatliche Untätigkeit und verzögerte Krisenbekämpfung wird zehn-, vielleicht hunderttausenden oder mehr Menschen das Leben kosten.

… Staat des Kapitals!
Der Staat zeigt sich so betrachtet zugleich als starker und als ohnmächtiger Staat, der die Unversehrtheit der Menschen nicht garantieren kann, da er unter dem Primat des Kapitals steht. Selbst jetzt, wo in Deutschland beinahe das komplette soziale Leben still gelegt wird – sogar Friedhöfe wurden geschlossen – wird die Arbeitspflicht nicht ausgesetzt. Die deutsche Ontologie der Arbeit macht den Gedanken, dass nun einmal die Produktion komplett stillstehen muss, offenbar undenk-bar. Das führt zu absurden Szenen, wenn etwa die Polizei Menschen, die allein im Park sitzen, verwarnt, und wenige Meter weiter aber Bauarbeiter_innen in engen Gruppen zusammenstehen oder ein Meeting in geschlossenen Büroräumen stattfindet.

Die Ausgangsbeschränkungen gelten also „nicht der wertschöpfenden Tätigkeit, sondern der Lust. Dabei stehen die einzelnen Spaziergänger … wohl kaum im Verhältnis zu den Virenherden Büro und Produktionsstraße.“ Von der Linken sollte daher „auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geblickt werden und die Kapitalisten zur Rechenschaft gezogen werden, da hier Arbeiter entweder Gesundheit oder Lohn riskieren.“ [2] Wie in Deutschland nicht anders zu erwarten, reagieren die Gewerkschaften jedoch vorwiegend handzahm. Ein von weiten Kreisen geteilter Aufruf zum Generalstreik wie in Italien ist hierzulande kaum vorstellbar. Die proletarische Passivität wird sich vermutlich noch deutlich rächen. Dabei ginge es aus Sicht der Arbeiter_innen nicht allein um das Ansteckungsrisiko in den Betrieben und Büros! Auch die noch relativ privilegierten Mittelschichts-Angehörigen, die im HomeOffice arbeiten, leiden massiv unter der dauernden Kinderbetreuung aufgrund der Kita- und Schulschließung, der mannigfaltigen Aufhebung der Trennung von Privatem und Beruflichen sowie dem Zwang, sich in einer psychischen Ausnahmesituation auf Lohnarbeit zu konzentrieren.

… Einvernehmen mit dem Tod als Einvernehmen mit dem Staat
Seit einigen Tagen ist das Kapital nun auch propagandistisch erneut in der Offensive und findet in der bürgerlichen Presse wieder Gehör. So fragte Alexander Dibelius, einflussreicher Manager und früherer Deutschlandchef der Investmentbank Goldman Sachs, im Interview mit dem Handelsblatt am 24.03.2020: “Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden” – dies “mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?” Der drohende Tod zahlloser Älterer und chronisch Kranker ist für diese Gesellschaft eben noch lange kein valides Argument, den (ökonomischen) Betrieb einmal auf Pause zu stellen. Wie in den schon lange währenden Diskursen um „Priorisierung“ im Gesundheitswesen und die Frage nach der Bezahlbarkeit künstlicher Hüftgelenke für alte Menschen zeigt sich hier auch ein sozialdarwinistisches Element: die für das Kapital sowieso nicht oder nur marginal verwertbaren „Risikogruppen“ sollen dem tödlichen Risiko ausgesetzt werden, um nicht den eigenen Profit zu gefährden. „Bis in hochgebildete und standesgemäß linksliberale Kreise hinein herrscht die Überzeugung vor, dass es schon irgendwie okay und verschmerzbar ist, wenn Alte und Kranke früher sterben. Noch wie in der Kindheit stehe ich allein mit meinem Entsetzen, wenn von Frischverstorbenen quasi entschuldigend gesagt wird, sie seien immerhin ‚schon sehr alt gewesen‘ – so als hätten sie vielleicht nicht noch Bock auf ein, zwei Nachmittage mit Likör gehabt.“ (Leo Fischer).

Am 25.03. wird die sozialdarwinistische Position, man müsse aussichtslos Kranke zugunsten von Menschen mit besseren Überlebensaussichten sterben lassen, von Seiten ärztlicher Fachgesellschaften und sogenannter Medizinethiker auch fachlich legitimiert: „Wenn nicht mehr alle kritisch erkrankten Patienten auf die Intensivstation aufgenommen werden können, muss analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden“, heißt es. Es sei „unausweichlich“, eine Auswahl zu treffen, welche Personen akut- oder intensivmedizinisch behandelt werden „und welche nicht (oder nicht mehr).“ [3] Implizit sind damit v.a. alte Menschen, aber auch Menschen mit Behinderung oder schweren Krankheiten gemeint. Der in kapitalistischer Sicht gegen Null tendierende Wert der Alten und Kranken wird so in den nächsten Wochen fortlaufend gegen den kapitalistischen Mehr-Wert abgewogen werden. Es steht zu befürchten, dass sich die Interessen des Kapitals durchsetzen werden, wenn nicht endlich deutliche Gegenstimmen laut werden.

Im Gegensatz zu manch anderen Kämpfen, in denen sehr klar Stellung bezogen wird, scheint die Linke konfus und indifferent angesichts der eklatanten sozialdarwinistischen Menschenverachtung des Kapitals. Klare Positionen können hingegen aus älteren Schriften der Kritischen Theorie bezogen werden: „Der Tod ist die größte Angst des Menschen. Das Projekt der Aufklärung ist, von den Menschen die Angst zu nehmen“ (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer). Der Tod ist der Kritischen Theorie zufolge die „härteste Gegenutopie“ (Ernst Bloch). Das aktive Einverständnis mit dem Tod zahlreicher Menschen bedeutet „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott“ (Herbert Marcuse). Vor einigen Jahren warnte der Text „16 Thesen zum Scheitern der Linken am Tod“ in drastischen Worten, die sich angesichts der Corona-Krise besonders aktuell lesen: „Die heutigen Diskussionen um ‚lebenswertes‘ Leben teilen ihre Grundlage mit dem nationalsozialistischen Denken: das identifizierende, bürgerliche Bewusstsein, das Menschen auf ihre Verwertbarkeit hin unterteilt und alles (vermeintlich) Andersartige als Bedrohung wahrnimmt. Die Unterscheidung von ‚wertem‘ und ‚unwertem‘ Leben ist auch in den heutigen Todesdiskussionen, etwa um Sterbehilfe, Patient_innenverfügung, Organspende aber auch Pränataldiagnostik etc. präsent.“ [4]

Vertiefung gesellschaftlicher Widersprüche
In der Krise spitzen sich auch jenseits des engen Terrains des Gesundheitswesens die gesellschaftlichen Widersprüche zu. Die Spaltung in Deutsche und Migrant_innen verschärft sich etwa, wenn als asiatisch gelesene Menschen auf der Straße angegriffen werden – aber auch die strukturelle Benachteiligung, wenn etwa lebensnotwendige offizielle Informationen zu Corona vorwiegend in deutscher Sprache verfügbar sind. Die Spaltung zwischen Staatsbürger_innen und Geflüchteten verschärft sich zudem insbesondere durch deren rechtliche Schlechterstellung und Lager-Unterbringung, welche die Ansteckungsgefahr wie auch die Dimensionen der Quarantäne exponentiell verschärft. Die Spaltung von Besitzenden und Besitzlosen verschärft sich, wenn sich etwa Vermögende auf Landsitze zurückziehen und Privatkliniken in Anspruch nehmen können, während arme Menschen auf beengtem (urbanen) Raum miteinander leben müssen. Oder gar als Obdachlose kaum noch Zugang zu Essen, Geld, Finanzen und Übernachtungsmöglichkeiten finden. Und wenn auch einige – bei Weitem nicht alle – der als „systemrelevant“ deklarierten Berufe wie die Pflege oder Supermarktpersonal weiblich codiert sind, verschärft sich in der Krise auch der patriarchale Charakter der Gesellschaft. Insbesondere die Schließungen von Kitas und Schulen verstärken den Reproduktionsdruck und zwingen vielen Frauen, die Kinder betreuen, extraordinäre Zusatzbelastungen auf. Erfahrungen aus China zeigen zudem, dass es hier durch den Lockdown zu einem Anstieg häuslicher Gewalt kam – erste Zahlen der Berliner Polizei von Ende März deuten auf eine vergleichbare Entwicklung in Deutschland hin.

Die sozialen Folgen der Ausgangsbeschränkungen sind derzeit noch nicht abzusehen. Jedenfalls müssen die Menschen, die nun ggf. aufgrund von psychische Belastungen in den Suizid getrieben werden, die Junkies die an unreinem Stoff sterben, die Menschen denen nun reguläre Gesundheitsleistungen nicht mehr zugänglich sind, oder diejenigen, deren Gesundheit durch die plötzliche Verarmung belastet wird, als indirekte Opfer noch zu den direkten Opfer der Pandemie hinzu gezählt werden. Der Kapitalismus zeigt somit erneut seine Unfähigkeit, für ein gutes Leben zu sorgen: erst werden Gesundheitssysteme aus Profitgründen abgebaut, dann wird zu spät auf eine evidente Gefahr reagiert, und schließlich bringt die staatliche Reaktion wieder zahlreiche Menschen in existentielle Nöte.

Zwischen Klopapier und Corona-Party – Regression und Ohnmacht der Subjekte

Was bedeutet die Corona-Krise nun für die einzelnen Menschen? In der kapitalistischen Gesellschaft treten sich die Individuen objektiv als Vereinzelte gegenüber, die in Konkurrenz zueinander stehen. Als Subjekte entwerfen sie eine Selbsterzählung von einem kohärenten, mit sich selbst identischen Ich, das weitgehend autonom seine eigenen Absichten verfolgt. Was dieser Erzählung vom autonomen und rationalen Leben entgegensteht, wird verdrängt auf „die Anderen“ projiziert – so etwa in der rassistischen Figur „Die Ausländer nehmen mir die Arbeitsplätze weg“.

Wurde dieses Narrativ eines autonomen Subjekts schon in den letzten Jahrzehnten durch die zu-nehmende Prekarisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft immer brüchiger, zerplatzt diese Erzählung nun wie eine Seifenblase. Lange gehegte Selbstverständlichkeiten – soziale Rituale wie Händeschütteln und Umarmungen zur Begrüßung, die Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, der gesellige Austausch in der Freizeit etc. – werden in rasanter Geschwindigkeit in Frage gestellt. Die verdrängte Abhängigkeit von Dritten, die in einer globalisierten Welt tendenziell eine globale Ab-hängigkeit bedeutet, wird den Subjekten in der Corona-Krise schockartig vor Augen geführt. Sogar die kurzfristige Planung der kommenden Tage gestaltet sich äußerst prekär. Die scheinbare Naturkatastrophe bricht über die Einzelnen in Form der ununterbrochenen Informationsflut der medialen Live-Ticker und Timelines einher. Daraus resultiert das Gefühl eines totalen Kontrollverlustes über den eigenen sozialen Nahbereich und die eigenen Lebenspläne, eine beinahe komplette Ohnmacht.

Zum Verlust des Autonomie-Gefühls treten existenzielle Ängste und Sorgen um die ausreichende Verfügbarkeit von Lebensmitteln sowie um die angesichts des Corona-Virus ungewisse körperliche Unversehrtheit der eigenen Person wie auch vieler Nahestehender. Neben der oben erwähnten nationalistisch angehauchten Durchhalte-Rhetorik existieren kaum kollektiven Bewältigungsstrategien – öffentliche Schrei- oder Heultherapien gibt es nicht, und auch das vermittelte Ausagieren von Aggression etwa im Sportverein entfällt derzeit. Lediglich die punktuelle Solidarität etwa in Form nachbarschaftlicher Initiativen kann Manchen etwas Handlungsmacht und Sicherheit zurückgeben. Die überwältigenden und widersprüchlichen Affekte müssen daher vorwiegend im Privaten, im sozialen Nahumfeld des Freundes- und Familienkreis, oder angesichts der fortschreitenden Quarantänisierung und (Selbst-)Isolation sogar komplett allein ausgetragen werden. Das eigene Heim – wo es existiert, was im Falle von Geflüchteten, Obdachlosen, Inhaftierten etc. nicht der Fall ist – wird zur Schutz- und Trutzburg gegen den Virus, der im Außen tobt. Im Corona-Biedermeier putzen, polieren und renovieren die Deutschen ihre Wohnungen, wie sie nun ihre Hinterteile mit dem im Überfluss gehamsterten Klopapier zum Exzess abwischen können. Die Regression auf infantile Verhaltensmuster aus der Kindheit, die derzeit haufenweise stattfindet und tatsächlich Trost und Geborgenheit inmitten des Chaos stiftet, findet auf nationaler Ebene ihre Entsprechung im Putzfimmel und dem Klopapier-Hamstern: die Deutschen regredieren in der Krise kollektiv auf den analen Charakter, auf die ursprüngliche Gemeinschaftserfahrung des deutschen „Volkes“ von Sicherheit, Sauberkeit, Ordnung und Arbeit/Produktion. Dem entspricht das Ressentiment gegen die lustorientierten und ausschweifenden (angeblichen) Corona-Parties, deren Teilnehmende sich nicht Merkels Ruf nach „Verzicht und Opfer“ (22.03.2020) fügen wollen. Glücklicherweise ist der Vernich-tungsimpuls im Postnazismus weit weniger stark ausgeprägt als 1933-1945. Daher geht derzeit auch keine Corona-Bürgerwehr in SA-Uniformen auf der Jagd nach „Volksfeinden“. Vielmehr prä-gen den öffentlichen Raum neben der Polizei Spaziergänger_innen und die Jogger_innen, die mit ihrer individuellen Selbstoptimierung das perfekt an die Krise angepasste, flexibilisierte Subjekt ab-geben.

Corona und die Linke
Aus der Linken gibt es bisher wenige klare Antworten auf die Corona-Krise. Auch die Linke wurde von der Pandemie komplett überrascht und paralysiert, zumal Gesundheitspolitik bis auf wenige Initiativen in der Pflege, die Bewegung gegen den §218 oder rund um die kleinen Krüppel- und Antipsychiatriebewegungen kein von links besetztes Thema ist. Offenbar fällt es vielen Linken auch schwer, die Ambivalenz der aktuellen Vorgänge zu erfassen, die nicht auf althergebrachte Nenner zu bringen ist. Entsprechend eher mager und zum Teil wirr fielen erste Stellungnahmen aus. Das Spektrum reichte von linksliberalem Sozialdarwinismus [5], die Rede von der „Corona-Hysterie“ (indymedia), vielen Aufrufen und Praxen der Nachbarschafssolidarität und Texte zur Anti-Repression bis hin zu zuletzt vermehrt erscheinenden antirassistischen, materialistischen und klassenkämpferischen Analysen. Einige wichtige Forderungen haben sich so herauskristallisiert, die wir abschließend sammeln und ergänzen möchten:

Wie könnte ein linksradikales Programm aussehen?
– Generalstreik in allen Sektoren, die nicht von akuter Relevanz sind!
Da wo weiterhin gearbeitet werden muss, um die gesellschaftliche Reproduktion und die Überwindung der Pandemie zu ermöglichen, müssen die Bedingungen radikal und sofort verbessert werden, z. B. durch Verdopplung des Lohns, konsequenten Gesundheitsschutz, Physical Distancing, Einhaltung von Pausenregeln etc. Auch die Arbeitsbedingungen im HomeOffice müssen verbessert werden. Zudem könnten die dadurch freigesetzten Zeitressourcen genutzt werden, um auf freiwilliger Basis die Reproduktion des überlasteten medizinischen und pflegerischen Personals (z. B. durch Einkaufshilfen) zu gewähr-leisten

– Sofortige radikale Aufstockung der (intensiv-)medizinischen Kapazitäten, um die drohende Überlastung des Systems und den Einsatz der „Triage“ abzuwenden!
Kein Mensch darf sterben (gelassen werden), weil sie_er alt oder krank ist! Ganzheitliche psychosoziale, medizinische und pflegerische Unterstützung für alle Alten, chronisch Kranken, Menschen mit Behinderung und psychisch Belasteten!

– Miet-Generalstreik!
Es ist angesichts der vorherrschenden finanziellen Unsicherheit nicht zumutbar, weiterhin Mieten, Hypotheken, Kredite etc. zu zahlen!

– Bedingungsloses Grundeinkommen von 3.000 Euro für Alle!
Unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Unbürokratische Auszahlung ohne Zwang zur indivuellen Antragsstellung

– Besetzung allen Leerstand, Hotels, Büroräume!
Räume schaffen für gutes und hygienisches Wohnen für Geflüchtete, Obdachlose und alle, die jetzt in beengten Verhältnissen leben

– Antinationale Perspektiven verbreiten!
Ein Virus, der sich über physische Nähe überträgt, kann nicht mittels nationaler Grenzen bekämpft werden! Wir brauchen eine universelle, kosmopolitische Bewegung. Ein_e Corona-Tote_r in Kreuzberg, New York oder Tübingen ist genauso schlimm wie in Wuhan, Lagos oder Kairo

– (Psychische) Gesundheit als Handlungsfeld ernst nehmen und kostenlose Gesundheitsversorgung für Alle!
Gesundheit als eine wichtige Grundlage für ein gutes Leben muss stärker in den Fokus auch linker Analysen rücken. Kurzfristig bedarf es zudem des Ausbaus einer psychosozialen Unterstützungsstruktur, um die durch die Pandemie verursachten mannigfaltigen psychischen Krisen aufzufangen

– Emanzipatorische Trauerarbeit entwickeln!
Weltweit werden in den kommenden Wochen und Monaten viele Menschen durch den Corona-Virus sterben. Auch Genoss_innen werden davon nicht ausgenommen sein. Die Linke (in Deutschland) hat bisher kaum eigene Trauerrituale, Trauer ist meist religiös und/oder familiär besetzt. Ggf. kann die queere AIDS-Bewegung der 1980er-Jahre hier ein Vorbild sein.

– Sachzwänge überwinden und am Lustprinzip festhalten!
Wenn wir es wollen, ist auch unter den Bedingungen physischer Distanz Vieles möglich!

Unter dem Regime des physical distancings ist es eine besondere Herausforderung, Protest und Subversion zu organisieren. Wir freuen uns, wenn ihr diese Inhalte off- wie online im öffentlichen Raum via Transparenten, Graffiti etc. verbreitet. Eine Möglichkeit könnten auch Hashtag-Kampagnen (z. B. #corona_generalstreik), koordinierte Shitstorms gegen die Accounts der Herr-schaft oder digitale Blockaden bestimmter Websites sein. Auch kreative Aktionen gegen Ärzte- und Kapital-Verbände sowie andere reaktionäre Kräfte, die sich nun mit sozialdarwinistischen Triage-Forderungen, Hetze gegen alte und kranke Menschen und Arbeitswahn hervortun, sind im Bereich des Möglichen.

“Zart wäre einzig das Gröbste: dass niemand künstlich beatmet werden muss.” [6]

Corona du Opfer, gib Impfung – Kapitalismus du Opfer, gib gutes Leben!
Für radikale Empathie und Zärtlichkeit. Nie wieder Profitorientierung!


gruppe 8. mai [berlin/wuhan/lagos]
achtermai.blogsport.de

Fußnoten:
[1] Fiktive Aussage, in Anlehnung an Karl Marx: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“
[2] https://twitter.com/B___Walther
[3] Aus dem Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111377/Mediziner-nennen-Kriterien-zu-Entscheidungen-ueber-Leben-und-Tod Die erwähnte Stellungnahme „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie Klinisch-ethische Empfehlungen“ stammt von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, der Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und der Akademie für Ethik in der Medizin
[4] http://somost.blogsport.de/16-thesen/
[5] „Einer der natürlichsten und für die Population gesündesten Vorgänge der Welt, das Sterben alter Individuen, wird plötzlich zu einer Ungeheuerlichkeit“, so die linksliberale Bloggerin Meike Lobo.
[6] In Anlehnung an Theodor W. Adorno: “Zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll.“